Was passiert mit uns, wenn die Welt um uns verschwindet? In Thea Mengelers zweitem Roman Nach den Fähren bleiben plötzlich die Fähren zu einer Ferieninsel weg. Eine neue Gemeinschaft der Zurückgebliebenen entsteht.
Tourismus ist in Zeiten von Umweltschutz und Klimawandel ein zweischneidiges Schwert geworden. Oder vielmehr erscheint es als ein solches, denn die Probleme waren ja schon immer da: Wie können die Ansprüche von Einzigartigkeit, Authentizität und Unberührtheit, die heute an touristische Ziele gestellt werden, in Einklang gebracht werden mit immer mehr Tourist*innen und damit einhergehend einer touristischen Infrastruktur aus den immer gleichen Hotelblöcken, standardisierten Restaurantketten und schnell überlaufenen Attraktionen sowie tot getrampelter Natur? Und wie kann das Leben für die eigentlichen Einwohner*innen so gestaltet werden, dass sie vom Tourismus leben können, aber nicht von ihm zerdrückt und verdrängt werden?
Angesichts solcher Dilemmata kann man sich als Einwohner*in einer schönen kleinen Ferieninsel schnell wünschen, dass die Tourist*innen zum Teufel gehen und einfach wegbleiben sollen. Geht mir in Berlin ja auch nicht anders, wenn mir in Mitte permanent Menschen vors Rad laufen, die lieber coole Urlaubsfotos auf Insta posten wollen als sich mit Belanglosigkeiten wie dem Verkehr um sie herum zu beschäftigen. Doch was würde eigentlich passieren, wenn die Tourist*innen wegblieben? Für Berlin wäre es vielleicht zu verkraften, aber was passiert auf einer kleinen Insel?
In Thea Mengelers Roman Nach den Fähren passiert genau das: Die Fähren, die jedes Fahr von Frühsommer bis Herbst die Menschen gebracht haben, bleiben plötzlich weg. Die Zurückgebliebenen denken erst an einen Defekt, einen Sturm, eine Störung irgendwo im System. Morgen werden sie schon wieder kommen. Doch nach Jahren ist immer noch nichts passiert. Die wenigen Inselbewohner*innen arrangieren sich also immer mehr mit ihrem Schicksal und bilden eine neue Gemeinschaft, die in vielerlei Hinsicht wieder an das Leben in vormoderner Zeit anknüpft.
Denn mit den Fähren bleiben nicht nur die Besucher*innen weg, sondern auch die Versorgung vom Festland. Die Menschen besinnen sich wieder auf die wirklich wichtigen Grundlagen. Der Bauer baut Getreide an, der Müller mahlt es zu Mehl, die Bäckerin backt Brot daraus. Die Fischerin holt jeden Tag ein paar Fische aus dem Meer, der Barmann braut Bier und brennt Schnaps. Jede Person findet ihren Beitrag, mit dem sie ihren Betrag leisten kann. Geld verschwindet schnell, es ist sinnlos geworden.
In diesem Setting entspinnt sich ein kleiner Plot um einige Personen auf der Insel. Er erlaubt einen Blick in die Köpfe der Menschen, zeigt, wie sie mit dem unerwarteten, neuen Leben in kompletter Abgeschiedenheit von der Welt zurechtkommen. In einer poetischen, auf das absolut Nötigste reduzierten Sprache schildert Nach den Fähren die Insel und ihre Bewohner*innen, und erzeugt damit ein atmosphärisch dichtes Bild einer durchaus utopischen Gesellschaft. Hier ist keineswegs alles gut, aber die Sehnsucht nach einem einfachen Leben wird detailliert durchgespielt – sozusagen die andere, die fehlende Seite von Johanna Sebauers Roman Nincshof. Ein Roman, das Lust auf mehr macht.
Thea Mengeler: Nach den Fähren | Wallstein | 175 Seiten | 20 Euro | Erschienen im März 2024