Ich habe von Uwe Wittstocks Buch Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur erwartet, dass es interessant sein könnte. Was ich nicht erwartet habe, ist, dass es mich völlig in seinen Bann zieht, mich umhaut, wütend macht und wahrscheinlich mein absolutes Jahreshighlight wird.
Es ist Juni 1940, die deutsche Wehrmacht hat Frankreich besetzt, die französischen Truppen haben den Deutschen fast kampflos das Feld überlassen. Frankreich wird geteilt, der Norden wird zur besetzten Zone, der Süden zur »freien« – doch nur scheinbar. Denn die französische Übergangsregierung, die nun in Vichy sitzt, kollaboriert mit den Deutschen im Kampf gegen den Widerstand und erlässt nach und nach Sondergesetze für Juden, die zu Enteignung und Deportationen in Vernichtungslager führen. Zahlreiche Menschen, die nach der Machtübernahme Hitlers nach Frankreich geflohen waren und dort im Exil lebten, flüchten nun nach Südfrankreich und sitzen dort in der Falle.
Überall im Land stehen Straßensperren, überall werden die Pässe und die sauf-conduits kontrolliert, außerdem sind die Grenzen geschlossen, niemand kann Frankreich verlassen. (S. 63)
Denn die benachbarten Staaten sind bis auf die Schweiz entweder von Nazis besetzt oder, wie Italien und Spanien, selbst von Faschisten regiert. Das Mittelmeer bietet keinen Fluchtweg, da es von italienischen Kriegsschiffen kontrolliert wird. Hinzu kommt, dass die Vichy-Regierung keine Ausreisegenehmigungen erteilt und von den Nazis Fahndungslisten bekommt, auf denen bekannte Hitler-Gegner:innen und Dissident:innen stehen, die Frankreich an Deutschland auszuliefern habe.
In dieser aussichtslosen Zeit kommt ein junger Amerikaner, Varian Fry, nach Marseille. Er soll einigen Exilliterat:innen – ausgewählt u.a. von Thomas Mann – Notfallvisa für die USA ermöglichen. Geplant sind drei Wochen, doch Fry wird viel länger bleiben und eine Organisation aufbauen, die letztlich über tausend Menschen zur meist illegalen Flucht aus Frankreich verhelfen wird. Die Aktivitäten und Mitarbeiter:innen dieser Organisation stehen im Mittelpunkt dieses Buches.
Marseille 1940 ist kein Roman, sondern vielmehr ein biografisches Kaleidoskop mit Fokus auf verschiedenste Erfahrungen von Menschen, die in Südfrankreich 1940 gestrandet sind, und von denen, die ihnen helfen. Es erzählt von den dramatischen Fluchtgeschichten vieler berühmter Persönlichkeiten wie Anna Seghers, Walter Benjamin, Lion und Marta Feuchtwanger, Hannah Arendt oder Max Ernst. Doch es erzählt auch die Geschichten von denjenigen, die die eigene Freiheit opferten, um anderen zu helfen und deren Namen viel weniger bekannt sind.
Wenn sie den Bedrohten helfen wollen, müssen sie sehr schnell sein, schneller als die Gestapo. (S. 47)
Da ist zum Beispiel der Amerikaner Charles Fawcett, der regelmäßig zu Internierungslagern in Südfrankreich reist und eine Jüdin heiratet, die daraufhin entlassen wird und legal nach Lissabon und weiter in die USA entkommen kann. Hat sie Frankreich verlassen, wird die Scheidung veranlasst und Fawcett heiratet die nächste internierte Jüdin. Beeindruckt hat mich auch die Geschichte von Lisa und Hans Fittko, ein deutsch-österreichisches Paar, sie Jüdin, beide selbst Verfolgte. Sie bleiben monatelang an der Grenze zu Spanien in den Pyrenäen und schmuggeln zu Fuß Menschen über einen geheimen Bergpass nach Spanien, darunter auch Walter Benjamin, der am Abend dieser Flucht im spanischen Grenzort stirbt.
Trotz der vielen Perspektiven gelingt es Uwe Wittstock wunderbar, einen roten Faden zu kreieren und dramatische Wendepunkte so zu platzieren, sodass man dieses Buch nur schwer aus der Hand legen kann. Mit Varian Fry als Hauptfigur widmet er sein Buch einem Mann, dessen Verdienste noch immer nicht genug anerkannt werden. Er zeigt außerdem, was für ein riesiger bürokratischer Apparat hinter der Flucht vor den Nazis steckte, der ganz oft dazu führte, dass viele Menschen es am Ende doch nicht rechtzeitig geschafft haben, ihnen zu entkommen.
Besonders sauer macht mich der Fall der Exfrau von Max Ernst, Luise Straus-Ernst. Das gemeinsame Visum für die USA der beiden war schon in Marseille angekommen, als Eleanor Roosevelt sich persönlich dagegen einsetzte, da sie die Scheidung der beiden als »unentschuldbare Unkorrektheit« (S. 305) betrachtete. Dass Luise Straus-Ernst 1944 in Auschwitz ermordet wurde, daran trägt also auch die Sinnlosigkeit des amerikanischen Puritanismus eine Mitschuld.
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur | 351 Seiten | 26 Euro | Erschienen im Februar 2024
Uwe Wittstock bei der globaleº 2024: Eröffnungsveranstaltung der globaleº 2024 am Montag, den 28. Oktober 2024 um 18 Uhr im Bremer Rathaus. Uwe Wittstock wird mit Ronya Othmann sprechen, deren aktueller Roman Vierundsiebzig hier bereits rezensiert wurde. Diese Veranstaltung ist kostenfrei, es ist jedoch notwendig, sich vorher anzumelden. Anmeldung bis 21. Oktober hier.