Der Autor Domenico Müllensiefen war in diesem Jahr schon zum zweiten Mal beim globaleº Festival für grenzüberschreitende Literatur in Bremen zu Gast und hat diesmal seinen neuen Roman Schnall dich an, es geht los (2024) vorgestellt. Ich habe dies zum Anlass genommen, um mit ihm über seine schriftstellerische Arbeit, seine literarischen Themen und das gegenwärtig wieder sehr gern verteilte Label des »Nachwenderomans« zu sprechen.
2022 warst du mit deinem Debütroman Aus unseren Feuern schon einmal beim globaleº-Festival, dieses Jahr bist du mit deinem neuen Roman Schnall dich an, es geht los wieder dabei. Was hat sich seitdem in deinem Leben getan?
Alles. Alles hat sich geändert. Als ich vor zwei Jahren hier war, kam ich gerade frisch aus Amerika zurück, wo ich an der University of Idaho kreatives Schreiben unterrichtet habe und ich war noch völlig geflasht von diesen Eindrücken. Hinzu kommt, dass ich dann in Deutschland plötzlich viel Zeit auf meinen Lesungen verbracht und Interviews gegeben habe und einfach lange und oft im Mittelpunkt von literarischen Veranstaltungen stand. Irgendwann wurde es ruhiger und ich konnte mich zurückziehen und mich mit meinem neuen Roman beschäftigen. Ich habe mich dann regelrecht verkrochen, bin tagsüber arbeiten gewesen und nach der Arbeit in mein Schreibbüro gefahren und habe am neuen Roman gearbeitet. Das habe ich in diesem Rhythmus sehr lange so gemacht, sodass ich praktisch kein Privatleben mehr hatte und kaum auf gesellschaftlichen Veranstaltungen unterwegs war. Ich bin wirklich abgetaucht und habe mich nur um den Roman gekümmert.
Die letzten zwei Jahre waren ein Rausch. Ich führe Tagebuch um irgendwie mitzuschneiden, was ich eigentlich alles so erlebe, diese vielen Lesungen, diese vielen Reisen und tollen Menschen, die ich überall getroffen habe und die Lust haben, über Literatur zu sprechen und mit einem zu arbeiten. Oder dass mein erster Roman auf einmal in Neubrandenburg und jetzt in Neustrelitz als Theaterstück aufgeführt wird. Für all diese Erfahrungen bin ich sehr dankbar.
Seit wenigen Monaten ist das Schreiben ja wirklich dein Beruf, von dem du leben kannst. Aber wie hat das alles überhaupt angefangen?
Dass das mal ein Beruf werden könnte, das war ja immer der große Traum. Angefangen hat es, nachdem die erste große Liebe zu Ende war. Da habe ich ein bisschen an mir herumlaboriert und das Schreiben als Ausgleich und Methode entdeckt, das Ganze irgendwie zu verarbeiten. Den Ausklang der Beziehung habe ich in einem Text ausformuliert und dann dort Fiktion reingebracht, hatte aber nie die Absicht, das zu publizieren, das war nur für mich. Als meine gute Freundin Maxi diesen Text dann aber mal gelesen hat, meinte sie: »Das ist gut, mach damit weiter.« Sie war also meine erste Leserin überhaupt. Das, was ich da geschrieben habe, war sehr roh. Ich wusste gar nicht, was ich da mache. Später habe ich durch meinen Beruf den mittlerweile bereits verstorbenen Krimischriftsteller Steffen Mohr kennengelernt. Ich habe bei ihm zuhause einen Router installiert und er hatte ziemlich viele Bücher zuhause. Es ist gar nicht so üblich, dass Menschen in ihrer Wohnung Bücher haben. Mehr als drei ist schon ungewöhnlich und ich war in vielen tausenden Wohnungen durch meinen Beruf. Ich habe Steffen gefragt, warum er so viele Bücher hat und er hat mir erzählt, dass er Schriftsteller ist und ich habe ihn daraufhin einfach gefragt, ob er bereit wäre, von mir mal so 20 Seiten zu lesen. Er hat sich erst geziert, es dann aber gemacht und mir kurz darauf einen Brief in den Briefkasten gesteckt, in dem er in blumigen Worten schrieb, dass ich von der Kabelgesellschaft geschickt wurde, mich aber als der neue Stern am Literaturhimmel entpuppe.
Steffen hat mir dann zum ersten Mal vom Literaturinstitut Leipzig erzählt und gemeint, ich sollte dort unbedingt Literarisches Schreiben studieren, um meine Fähigkeiten zu schärfen. Ich habe mich beworben, wurde zum Gespräch eingeladen, aber aussortiert. Ein gutes Jahr lang war ich dann erst einmal auf Montage und habe immer abends am Esstisch zwischen meinen Kollegen weitergeschrieben. Die haben mich belustigt dabei beobachtet. Dann habe ich mich wieder in Leipzig beworben, wurde wieder zum Gespräch eingeladen und habe dort ganz ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung, was mich hier erwartet, ich habe nicht die gleiche Vorbildung wie andere Leute, ich hab’ kein Abitur. Aber ich hab’ Bock, hier zu studieren, ich möchte das unbedingt machen. Dann haben die mich gefragt, was ich mache, wenn das Geld ausgeht. Und ich hab’ gesagt: Dann geh’ ich arbeiten, ist doch kein Problem. Und was mache ich, wenn ich ein Sonett schreiben soll? Ich wusste gar nicht, was das ist, aber dann probiere ich das, keine Ahnung. Ich musste keins schreiben, zum Glück. Und am Literaturinstitut wurde ich dann tatsächlich angenommen, habe meinen Job gekündigt und war Student im Literarischen Schreiben. Und war auf einmal in einer Welt, die maximal weit weg von dem war, wo ich herkomme. Ich bin meinem jüngeren Ich sehr dankbar, dass der Bengel sich das damals getraut hat.
Hast du eine Art Erfolgsrezept?
Ich glaube, man braucht drei Dinge: Man braucht das, was wir Talent nennen, also eine Art Begabung und Grundinteresse. Das haben sehr viele. Und dann braucht man aber noch eine gewisse Leidensbereitschaft und Disziplinhaltung. Man muss bereit sein, persönliche Opfer zu bringen und das Private in manchen Phasen seines Lebens komplett zurückzustellen, um schreiben zu können. Eine gewisse Härte gegen sich selbst also. Und das dritte ist Glück – das Glück, dass du auf Leute triffst, die an dich glauben, die mit dir arbeiten wollen, die dir positiv gegenüberstehen, die dich mit Energie vollpumpen, die dich nicht leer saugen. Die dir auf Augenhöhe und mit liebevoll-zutraulichem Blick begegnen. Ohne diese Leute hast du keine Chance. Wenn eines dieser Dinge fehlt, wird es sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich.
Wieviel Autobiografisches steckt in deinen Romanen?
Ich habe mal ein Buch von Toni Mahoni gelesen, Gebratene Störche. Habe ich eigentlich nur gelesen, weil der im Deutschlandfunk zu hören war, ich war da gerade unterwegs von Kunde zu Kunde, um diese Router zu installieren. Und der quatscht und quatscht und quatscht zu seinem Buch und dann hat man ihm diese Frage gestellt und er sagte: »Das ist wie bei einem guten Bier, so 6-8% sind drin.« Und diese Antwort hab’ ich mir übernommen. 6-8% Wahrheit könnten da schon drin sein.
In deinen Romanen tritt auch immer die Figur »Mülle« auf, ein Schriftsteller, der es aus dem Dorf herausgeschafft hat und der schon immer ein bisschen anders als die anderen war. Was hat es mit dieser Figur auf sich?
Mülle ist nichts Besseres, nur weil er Schriftsteller ist. Gewissermaßen sind das alles Witzfiguren, auch Mülle scheißt nicht im Stehen. Und so bin ich auch nichts Besseres, nur weil ich das Glück habe, Texte zu schreiben, die von anderen als gut befunden werden. Das macht mich nicht zu einem besseren, moralischeren oder integreren Menschen, überhaupt nicht. Es ist ein bisschen willkürlich, was wir belobigen und was nicht. Genau wie sportliche Leistung. Nur weil jemand gut gegen einen Ball treten kann – was natürlich hochkomplex und nicht zu unterschätzen ist –, heißt das noch lange nicht, dass diese Person deswegen irgendwelche gesellschaftlich relevanten Aussagen tätigen kann.
Welche Themen sind dir denn wichtig in deinen Texten, welche Perspektiven willst du zeigen?
Grundsätzlich erstmal Liebe, Empathie, zwischenmenschliche Beziehungen, Hoffnung und Zuversicht – auch wenn meine Texte sich im ersten Moment gar nicht so darstellen mögen. Wenn wir uns Heiko und Marcel anschauen – die Hauptfiguren meiner beiden Romane –, das sind Figuren, die mögen erstmal sehr perspektivlos aussehen. Die haben vermutlich auch wenige zuversichtliche Menschen um sich herum, vielleicht wirken sie auf einige Menschen sogar so, dass sie gar nicht liebevoll sein können, sondern eher abgehärtet sind, unfähig, Gefühle zu zeigen. Beide sind auch sprachlich äußerst limitiert. Und genau da wollte ich zeigen, dass diese Menschen trotzdem unglaublich empathisch sein können, dass sie einen manchmal kargen aber trotzdem unglaublich liebevollen Blick auf die Umgebung, auf die Landschaft, auf die Menschen um sich herum werfen und dass sie äußerst loyal und in der Lage sind, zu lieben und Freude zu schenken. Dass es Menschen sind, die sich wirklich für andere verbiegen bis sie vielleicht sogar selbst daran zerbrechen.
Das Ganze natürlich in einem Soziotop, was in den neuen Bundesländern und in den Nachwendejahren spielt. Das wird dann von außen leicht als »Ostroman« gelabelt. Und diese Indizien dazu, die bediene ich und die bediene ich auch gern, allerdings steckt da noch viel mehr drin. Meine schreiberischen Kompetenzen beruhen nicht darauf. Das sind die Themen, die ich bediene, weil ich in diesem sozialen Milieu groß geworden bin und natürlich erscheint es notwendig, das irgendwie einzusortieren, aber andererseits erscheint es mir auch komplett überflüssig, weil es eigentlich um die Texte gehen sollte, die Sprache, die Ästhetik, um die Geschichten und die Lust am Erzählen. Egal, was wir schreiben, alle Geschichten wurden schon tausendmal erzählt, aber wir finden immer wieder neue Interpretationen der alten Geschichten.
Welche Geschichten sind das zum Beispiel?
Marcel aus Schnall dich an, es geht los ist eine Figur, die leidenschaftlich gern erzählt, die sehr gern beobachtet, die gern ausbrechen würde, der aber einfach die Möglichkeiten dazu fehlen. Und Heiko aus dem Roman Aus unseren Feuern ist jemand, der stumpf weitermacht, weitermacht, weitermacht. Der geht arbeiten und lässt sich ausbeuten, weil er das so gelernt hat und verliert dabei den Blick für seine Freunde und dafür, dass die sich radikalisieren oder weggehen. Und er verliert sogar den Bezug zu seiner eigenen Emotionalität und Psyche. Das kommt dann alles hoch, als auf einmal dieser eine Freund tot vor ihm im Straßengraben liegt. Aus unseren Feuern ist ein Buch mit der Generalthese, dass Freundschaften über den Tod hinauswirken können und alles, was da passiert, ist praktisch die Prüfung dessen.
Das wurde in der Rezeption auch gesehen, aber leider oft auch verkürzt als »Nachwenderoman«. Mit dem Label kann ich leben, das bediene ich in Schnall dich an, es geht los ja sogar noch ein bisschen mehr. Es ist auch irgendwie mein Thema – Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Den Begriff »Nachwenderoman« finde ich aber grauenhaft – allein, weil »Wende« ein Wort ist, das von der SED kam und wenn wir »Nachwenderoman« schreiben, dann erzählen wir ein Narrativ der SED nach. Eigentlich müsste es »Nachwiedervereinigungsroman« heißen, das klingt aber fürchterlich und zeigt doch, wie idiotisch eigentlich diese Zuschreibung ist. Alle Bücher, die in Deutschland nach 1990 erschienen sind, sind Nachwiedervereinigungsbücher. Christian Kracht schreibt Nachwiedervereinigungsbücher, ich schreib die, Clemens Meyer schreibt die, Manja Präkels schreibt die und Juli Zeh schreibt die auch.
Ich danke Domenico sehr für dieses lebhafte Gespräch und unsere gemeinsame Zeit auf der globaleº 2024.