Dass die Geburt des eigenen Kindes viel zu oft kein schönes Erlebnis ist, zeigt Lena Högemann in ihrem Buch So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Sie benennt aktuelle Missstände in der Geburtshilfe und gibt Tipps, wie man sich vor Gewalt unter der Geburt schützen kann.
Niemals werde ich vergessen, wie ich vor etwas über einem Jahr schreiend im Kreißsaal überm Badewannenrand hing, dabei dachte, mein Darm würde komplett zerquetscht werden und das Baby käme niemals raus. Ein paar Stunden später war es dann doch geschafft, und ich konnte kurze Zeit später sagen, dass die Geburt meines Kindes das Krasseste und Schmerzhafteste war, was ich je erlebt hatte.
Aber Stefan und ich waren uns auch sehr schnell einig, dass das alles in allem eine gute Geburtserfahrung war – mit einer einfühlsamen und unterstützenden Hebamme, die fast die ganze Zeit bei uns war und wirklich gut auf meinen Damm aufgepasst hat, mit einer zugewandten Ärztin, die die Hebamme hat machen lassen und gegen die ich zum Endspurt mit voller Kraft mein Bein stemmen durfte, und mit einer angehenden Hebamme, die sich immer wieder um das piepende CTG gekümmert hat und sich ansonsten im Hintergrund hielt.
Dass diese Geburtserfahrung – gerade im Setting eines Krankenhauses – anscheinend großes Glück war, wurde mir erst durch die Lektüre von Lena Högemanns Buch So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! so richtig bewusst. Nachdem die Journalistin selbst eine sehr traumatische erste Geburt erleben musste, hat sie sich das System Geburtshilfe in Deutschland mal genauer angeschaut, mit vielen Betroffenen gesprochen und sich dazu entschlossen, in ihrem Buch über die verschiedenen Formen von Gewalt unter der Geburt und Missständen in der klinischen Geburtshilfe aufzuklären.
Dabei geht es konkret um Eingriffe in die Geburt, die nicht nötig wären oder die Geburt sogar verkomplizieren, um psychische Gewalt durch Hebammen und Klinikpersonal, um unnötige Untersuchungen während der Geburt, um Verletzungen, die hätten verhindert werden können, und immer wieder darum, dass Gebärende in der Geburtshilfe oftmals zu Hüllen für das Baby degradiert und nicht ernst genommen werden. Keine Spur von Selbstbestimmung. Das alles untermauert Lena Högemann durch ihre eigenen Erlebnisse, die sie immer wieder in den Text einfließen lässt, aber auch durch Erfahrungsberichte anderer, durch Gespräche mit Expert*innen sowie Studien.
Bevor ich dieses Buch gelesen hatte, dachte ich: »Mmh, 350 Seiten über das Thema Geburt … kann man da denn wirklich so viel berichten?« Ja, kann man, und kein Wort, keine Anekdote, keine Schlussfolgerung ist hier zu viel. Auch wenn ich eine gewaltfreie Geburt erlebt habe (von der Wochenbettstation im Anschluss reden wir mal lieber nicht, da sah es dann schon etwas anders aus …), war die Lektüre von So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! für mich absolut gewinnbringend.
Lena Högemann hat ein allumfassendes Buch zum derzeitigen Zustand der Geburtshilfe in Deutschland geschrieben, das sich nicht nur an betroffene und traumatisierte Eltern, an Hebammen und Geburtseinrichtungen wendet, sondern auch an all jene, die die Geburt noch vor sich haben – denn Högemann liefert zahlreiche Tipps, wie man sich gut vorbereiten und die Chancen gewaltvoller Eingriffe minimieren kann, um die eigene Geburt so selbstbestimmt wie möglich erleben zu können. Ich würde sogar behaupten, dass uns dieses Buch alle etwas angeht, denn es scheint derzeit vor allem auf den Geburtsstationen der Kliniken große Probleme (strukturelle, finanzielle, aber auch die Empathie betreffende) zu geben, die nicht immer und immer wieder die Gebärenden und Angehörigen allein ausbaden sollten.
Dennoch möchte ich an dieser Stelle nicht verschweigen, dass die Schilderungen der Betroffenen in diesem Buch sehr explizit und überwiegend – es ist nun mal das Thema des Buches – negativ sind. Aber das gehört zu Högemanns Anliegen der Aufklärung dazu, und nur so können zukünftig Gebärende sich auf konkrete Situationen, die sich scheinbar immer wiederholen, vorbereiten. Trotzdem sei an dieser Stelle eine Triggerwarnung zu physischer und psychischer Gewalt unter der Geburt für So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! ausgesprochen.
Heute findet übrigens der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen statt und zugleich der Roses Revolution Day. An diesem Tag legen seit 2011 weltweit Eltern rosafarbene Rosen vor den Türen der Kreißsäle und Kliniken ab, in denen sie während der Geburt ihrer Kinder Gewalt erfahren haben.
Lena Högemann: So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen | Ullstein | 352 Seiten | 22,99 Euro | Erschienen im März 2024