Die Abgründe des Normcore: Der Roman Heim von Saskia Hennig von Lange zeigt, wie ein geistig behindertes Kind in der jungen Bundesrepublik so sehr aus dem Raster fällt, dass alles um es herum zusammenzubrechen droht.
Die junge Bundesrepublik ist ein Ort der Verdrängung. Der Wiederaufbau des Lands läuft, die Trümmer sind immerhin schon weggeräumt. Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre ist in vollem Gange, die Menschen, die vor noch nicht mal zehn Jahren noch den Arm zum Gruß hochrissen, in der Wehrmacht dienten oder bei Angriffen der Alliierten in Bunkern hockten, tun so ziemlich alles, um die Zeit des Nationalsozialismus zu vergessen und flüchten sich aus dem »totalen Krieg« in die totale Normalität. Bloß nicht auffallen – nach allem, was vor so kurzer Zeit erst passiert ist, möchten die Menschen wieder in der Masse untertauchen, nun aber ganz explizit unpolitisch.
Für Hannah wird ein Untertauchen in der Masse niemals möglich sein. Ob sie will oder nicht. Denn Hannah hat bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen, hat autistische Züge und Spasmen, kann nicht gut sprechen und noch viel weniger je still sitzen. So sehr sie ein Wunschkind für ihre Eltern Tilda und Willem war, so sehr entpuppt sie sich immer mehr als ebenso unkalkulierbares wie kaum handhabbares Risiko für die immer schon etwas brüchige Ehe.
Tilda leidet vor allem unter dem Umfeld. Überall richten sich die Augen sofort auf Hannah, ziehen sich die Augenbrauen verärgert zusammen, wenn sie wild herumturnt und schreit, wo es sich gehört, still zu sitzen und artig zu sein. Selbst im eigenen Garten sind sie nicht sicher, die Nachbarn schauen durch ihre Fenster und kommen an den Gartenzaun, um ihre verurteilenden Blicke auf das Kind zu richten – und damit immer auch auf die offenbar unfähigen Eltern. Insbesondere die Mutter natürlich, die als Hausfrau und Mutter für die Erziehung des Kinds verantwortlich ist.
Willem dagegen ist ein Meister der Verdrängung. In guten Momenten schafft er es, sich mit Hannah zu verständigen, in ihren Kosmos einzutauchen und mit ihr zusammen in wilden Tänzen und Gesängen Spaß zu haben. Doch der Druck von außen ist auch für ihn auf Dauer zu stark, seine Fassade wird immer brüchiger, Depression und Wut dringen immer weiter in seinen ohnehin schon vom Krieg schwer lädierten Kern vor. So erscheint es nur konsequent, dass sich Willem und Tilda entschließen, Hannah in ein Heim zu geben, das mit Kindern wie ihr Erfahrung hat und ihr ein besseres Leben ermöglichen kann. Doch dieser Wunsch stellt sich schnell als große Fehleinschätzung heraus.
Heim wird ganz nah an seinen Figuren erzählt, die die junge Bundesrepublik lebendig machen. Tilda und Willem werden aus der dritten Person skizziert, wobei sie in ihren Gedanken auch immer wieder in die erste Person wechseln. Hier wird die Beklemmung Tildas greifbar, ihr anerzogener Drang nach Normalität und Ruhe, Anerkennung und Unsichtbarkeit, aber auch nach Freiheit und danach, einfach mal loslassen zu können. Bei Willem wird die Verdrängung immer spürbarer, die Flucht aus der Alltagswelt, die seine Probleme jedoch nie lösen wird – und gleichzeitig auch seine große Liebe zu Hannah und Tilda, die er jedoch kaum fähig ist, auszudrücken.
Mutig ist die Entscheidung, Hannah aus der ersten Person zu erzählen. Hier erlebt man beim Lesen, wie es sich anfühlen mag, wenn der eigene Verstand nach komplett anderen Gesetzen funktioniert als gewohnt. Wenn Zwänge das Erleben des Alltags regieren und Medikamente bzw. starke Beruhigungsmittel dieses Erleben bis ins weiße Rauschen hinein immer weiter herunterdimmen. An ihr wird greifbar, wie der Ableismus der Nazis auch in der BRD weiter fortlebte – und dies bis heute tut.
Heim von Saskia Hennig von Lange ist ein mutiger und mit seinem Setting aus der Reihe fallender Roman. Er schafft es, durch die Augen seiner Figuren die junge Bundesrepublik in all ihrer Beklemmung lebendig zu machen. Sprachlich wie psychologisch ist Heim herausragend, dazu ein Lehrstück über Ableismus in Deutschland. Eine erschreckende Empfehlung.
Saskia Hennig von Lange: Heim | Jung und Jung | 256 Seiten | 23 Euro | Erschienen im August 2024