Eskapismus trifft Zeitkritik: Christian Kracht bringt in seinem neuen Roman AIR dystopische mit utopischen Elementen ins Gespräch und macht daraus einen unterhaltsamen Roman, der Gelegenheitsleser*innen wie Fans gleichsam gefallen dürfte.

Alles beginnt auf den schottischen Hybriden, im Inseldörfchen Stromness. Dort lebt der begehrte Innenaustatter Paul. Sein Erfolg hat ihn immer weiter von den großen Zentren, den Großstädten, in denen er zumeist seine Arbeit erbringt, weggetrieben. Auf sich gestellt lebt er zurückgezogen am nördlichsten Zipfel Großbritanniens, nur über Fähren und Flieger zu erreichen und damit unzugänglich für jegliche Zufallsbegegnungen.
Als ihn ein neuer Auftrag erreicht, bricht er nach einigem Zögern doch auf, nach Stavanger, ins nördliche Norwegen. Dort soll er ein Archiv anmalen, und zwar im perfekten Weiß. Eine Aufgabe, die ihm wie auf den Leib geschneidert ist – auch wenn er selbst an seinem Können immer wieder zweifelt und das Genie, das andere in ihm sehen, nicht wirklich zu entdecken in der Lage ist. Doch das Archiv in einer großen Kaverne, einem riesigen unterirdischen Hohlraum, reizt ihn. Es beherbergt alle digitalen Informationen der Welt, den neuen Schatz der Menschheit.
An einem gänzlich anderen Ort schießt die 9-jährige Ildr auf ein Reh. Dachte sie zumindest, doch sie trifft einen Mann, der wie aus dem Nichts vor ihrem Bogen auftaucht, als sie den Pfeil gerade loslässt. Schwer getroffen hilft sie ihm, bis er wieder genesen ist. Auf der Flucht vor dem rücksichtslosen Herrscher ihrer mittelalterlichen Welt reisen die beiden zusammen immer weiter nach Süden, in immer kältere und lebensfeindlichere Gefilde. Als sie eine aus dem Stein gehauene Stadt erreichen, ist ihre Reise ans Ende gekommen. Sie entdecken den Ort und seine Bewohner*innen sowie einen weiteren unerwarteten Gast.
AIR ist der neue Roman von Christian Kracht. Er steht klar in einer Linie mit seinen stoffgetriebenen Romanen Imperium und Die Toten, nicht so sehr mit Faserland und Eurotrash. Sein jüngstes Werk verbindet zwei Plots miteinander und lässt sie ganz klassisch aufeinander zulaufen. Der eine folgt Paul von den Hebriden nach Stavanger und dort in das sagenumwobene Archiv. Dieser Teil ist eine kleine Near-Future-Dystopie, ganz nah an unserer spätkapitalistischen Gegenwart, die mit leichten Überzeichnungen der Charaktere sowie des megalomanischen Archivs kritisiert wird.
Dagegen montiert der Roman einen waschechten Fantasy-Abenteuer-Plot. In diesem reisen der Unbekannte und Ildr durch eine fremde Welt. Sie starten im feudalistischen Reich, das von einer mysteriösen Krankheit heimgesucht wird, die fast so schlimm ist wie der Schreckensherrscher. Sie fliehen immer weiter gen Süden, die Landschaft wird karger und karger, kälter und kälter, und damit auch immer lebensfeindlicher. Die unterirdische Stadt, die sie schließlich erreichen, ist so etwas wie die utopische Gegenfolie zum gruseligen Archiv der Gegenwart im anderen Plot. Denn hier können die Menschen nur im engsten Zusammenhalt überleben. Sie haben eine Gesellschaft geschaffen, in der jeder nur das Nötigste für sich nimmt und der Gemeinschaft zurückgibt, was immer er oder sie geben kann.
Der Roman ist durch die beiden so unterschiedlichen Plots höchst abwechslungsreich und wird nie langweilig. Das Tempo ist hoch, die Sprache leicht und präzise, unnötige Schlenker gibt es keine. Obwohl alles in der Rückschau genau konstruiert ist und nichts dem Zufall überlassen, überwiegt beim Lesen doch deutlich die Neugier auf das, was als Nächstes passieren wird. Natürlich ist relativ schnell klar, wo das alles hinführen wird, doch die Frage nach dem Wie bleibt spannend. Außerdem bietet der Roman im Fantasy-Plot ein großes Eskapismus-Potenzial, das richtig zeitgeistig ist.
Das macht AIR zu einem höchst zugänglichen und gradlinigen Roman, der aber trotzdem vom Feuilleton überschwänglich gefeiert wird. Das liegt zum einen natürlich an Christian Kracht und dessen bloßer Strahlkraft in die langjährige hochkulturelle Fangemeinde, zum anderen aber auch an den höchst geschickt platzierten Honeypots. Diese reißen in einem Nebensatz kurz ein größeres Thema an – etwa KI, Kapitalismuskritik, Zeitphilosophie –, um dann aber gleich im Plot weiterzugehen. So kann man hier große Diskurse finden, wenn man denn will, verliert aber auch nichts, wenn man sie links liegen lässt. Hier hat jemand die aktuelle Aufmerksamkeitsökonomie sehr gut verstanden.
AIR von Christian Kracht ist ein sehr unterhaltsamer Roman, gut geschrieben und garniert mit einer netten Portion Zeitkritik. Er bedient Eskapismus und Kapitalismuskritik gleichermaßen und ist damit auf der Höhe der Zeit, ohne dabei aber komplett vom Hocker zu hauen, denn dafür bleibt alles in diesem am Ende auch sehr kurzen Roman viel zu sehr an der Oberfläche. Dass er trotzdem im Feuilleton so gefeiert wird, ist das eigentliche Glanzstück und unterhaltsam zu verfolgen.
Christian Kracht: AIR | Kiepenheuer & Witsch | 224 Seiten | 25 Euro | Erschienen im März 2025