Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule

Schreiben und Erinnern: In Die Ausweichschule reflektiert Kaleb Erdmann über die Möglichkeit, nach 20 Jahren über einen Amoklauf zu schreiben.

Erdmann, Die Ausweichschule, Cover

2002 erschüttert ein Amoklauf Deutschland. In Erfurt gibt Robert Steinhäuser an seiner Schule über 70 Schüsse ab, erschießt 16 Menschen und am Ende sich selbst. Die Nation ist geschockt, dachte man doch, dass so etwas nur in den USA passiert, aber nicht hier.

Der Protagonist von Kaleb Erdmanns zweitem Roman Die Ausweichschule erlebt als Kind den Amoklauf mit, verstaut ihn danach jedoch schnell irgendwo in seinem Bewusstsein, lebt weiter, vergisst. 20 Jahre später drängen die Erinnerungen jedoch so stark ans Licht, dass er – nun Autor von Beruf – darüber schreiben will. Doch wie schreibt man über ein Ereignis, 20 Jahre später, nachdem schon tausende Seiten geschrieben sind und die offizielle Trauer abgeschlossen scheint?

Der Roman beschreibt ganz nah an der Figur, wie er den Schreibprozess erlebt. Wie er – neben seinem Alltag – mit den verschiedensten Fragen kämpft. Etwa der, ob er überhaupt über den Amoklauf schreiben darf, war er doch als Kind oberflächlich kaum davon beeinträchtigt. Oder ob noch irgendjemand jetzt, nach so langer Zeit, nochmal davon lesen möchte. Das Buch vielleicht sogar Wunden aufreißt, die gerade erst verheilt sind.

Gleichzeitig reflektiert das Buch darüber, wie das Erinnern funktioniert, wie in Wellen alles wiederkommt, auch verschüttete Erinnerungen an die Oberfläche gespült werden, andere, schon immer vorhandene sich dagegen als faktisch falsch herausstellen. Dabei ist der Roman durchsetzt mit einem feinen Humor, der jedes Pathos meilenweit entfernt hält und allem eine Leichtigkeit gibt, die auch schwerere Teile sehr gut tragen kann.

Die Ausweichschule ist ein Roman, der viele Metaebenen in sich trägt. Er macht sie aber in seinem Protagonisten so transparent und nachvollziehbar, dass sich auch essayistischere Einschübe leicht und unaufdringlich einfügen und alles im Fluss bleibt. Ein so leichter wie nachdenklicher Roman über Amok, Erinnerung, und nicht zuletzt über das Schreiben selbst. Und mit Letzterem immer auch ein wenig über den Literaturbetrieb.

Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule | park x ullstein | 304 Seiten | 22 Euro | Erschienen im Juli 2025


Disclaimer: Ich arbeite bei den Ullstein Buchverlagen, zu denen auch park x ullstein gehört. Der Text gibt komplett meine persönliche Meinung wieder.

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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