Wie ist es, als Homosexueller in einem arabischen Land aufzuwachsen? Wie, als Araber nach 9/11 in den USA zu leben? Und wie, eine konservative Restauration nach dem arabischen Frühling zu ertragen? Saleem Haddad behandelt in seinem Debütroman Guapa (Albino Verlag) zahlreiche Themen, die für mich einen neuen, facettenreicheren Blick auf die arabische Welt ermöglicht haben.
Rasa, der Protagonist in Guapa, führt ein bewegtes und alles andere als leichtes Leben in einer namenlosen arabischen Großstadt. Seine Mutter verlässt früh seinen Vater, der wiederum kurze Zeit später stirbt. Er wächst von da an nur mit seiner Großmutter, Teta genannt, auf. Sie verkörpert in Guapa ganz das Regime des Eib – damit wird alles bezeichnet, was aus der Norm fällt und damit Schande über eine Person und die Familie bringt. Soziale Konformität und Normalisierung werden hier groß geschrieben – was mich sehr an meine eigene Jugend auf einem kleinen Dorf im erzkatholischen Rheinland erinnert und mir Rasa und seine Situation gleich sympathisch gemacht hat.
Rasa fühlt sich anders, nicht zugehörig zu den anderen Jungen, die laut sind, sich raufen und immer wieder versuchen, Mädchen zu beeindrucken. Daran hat er keinerlei Interesse und wird, da auch die anderen das schnell merken, immer mehr bedrängt. Er versucht sich also unsichtbar zu machen, sich hinter einer vorgetäuschten, übertriebenen Normalität zu verstecken. Und versteckt sich damit auch vor seinen eigenen, ihn verwirrenden Gefühlen. Da alles Sexuelle in der Gesellschaft keinen Platz hat und alles nicht Heterosexuelle schon gar nicht, stößt er erst spät darauf, was ihn so verwirrt: Er begehrt Männer, er ist schwul.
Diese Entdeckung ist für ihn zunächst eine Befreiung, weil sie so viel in ihm erklärt und er nun ein sexuelles Ventil für viele seiner Frustrationen hat. Doch kann von einem Ende des Versteckspiels, das sein Leben bis dahin geprägt hat, keine Rede sein. Denn Homosexualität ist nicht nur eib, also gesellschaftlich verpönt, sondern auch haram, religiös geächtet und strafrechtlich verboten. Es überrascht kaum, dass Rasa es bis auf kleine, unverhoffte Situationen kaum schafft, seine Homosexualität auszuleben.
Doch dann lernt er Taymour kennen. Die beiden verlieben sich und werden ein Paar – wenn auch ausschließlich in den eigenen vier Wänden. Nach außen hin sind sie gute Freunde, mehr dürfen sie nicht sein. Dass dieses Konstrukt auf Dauer zum Scheitern verurteilt ist, dürfte allen von uns klar sein. Als dann Teta die beiden eines Abends in Rasas Bett erwischt, bricht eine Welt zusammen. Dies ist der erzählerische Einsatz von Guapa.
Saleem Haddad bringt uns Rasa in Guapa durch die Benutzung der Ich-Perspektive sehr nah, sodass wir Leser*innen direkt an seinen Erlebnissen teilhaben. Seine Sprache und Wortwahl sind einfühlsam und ausgeglichen. Für mich als Westeuropäer, der mit der arabischen Kultur nur recht oberflächlich vertraut ist, bedeutet diese Ausgeglichenheit vor allem, dass eine gute Balance zwischen dem Schildern von Ereignissen in Rasas Leben und dem Erklären von deren (möglichen) Hintergründen gehalten wird. Selten wirkt der Stil auf mich belehrend oder großspurig. Für Leser*innen mit arabischem Hintergrund oder mehr Kenntnissen könnte dies vielleicht anders aussehen. Ein Beispiel mit Rasas Großmutter:
Ich habe Tetas Schritten schon so oft gelauscht, dass ich anhand ihrer Anzahl weiß, dass sie vor meinem Zimmer stehen geblieben ist. […] Diese alte Frau und ihre altertümlichen Wertvorstellungen. Ihre Ideale hätten schon vor langer Zeit aussterben sollen, und doch hängen sie noch in der Luft wie ein Furz. Leute wie sie stehen zwischen Taymour und mir. Weiß diese alte Frau denn nicht, was Liebe ist?
Ein wenig Pathos ist der Stimme, die Haddad Rasa gibt, nicht abzusprechen, das hat mich aber nach kurzer Eingewöhnung nicht mehr gestört. Ganz im Gegenteil: Der Stil wirkte auf mich ganz erfrischend und auch passend für die schwere, von Tiefschlägen geprägte Liebesgeschichte in Guapa.
Dramaturgisch bedient sich Haddad in Guapa eines althergebrachten Konzepts, das aber sehr gut angewendet wird und die Geschichte kurzweilig trägt. Es beginnt mit der Katastrophe: Teta erwischt Rasa und Taymour im Bett. Im Weiterspinnen der Handlung lernen wir Rasas Leben in der Gegenwart und in Rückblenden seine Vergangenheit kennen. Dann spitzt sich alles auf ein Finale zu, das hier aber nicht verraten werden soll.
Interessant an Rasas Werdegang ist auch seine Zeit in den USA, wo er studiert. Hat er in seiner arabischen Heimat soziale Ausgrenzung aufgrund seines sexuellen Andersseins kennengelernt, ist es in den USA seine Herkunft, die ihn zum Außenseiter macht. Denn er kommt im Sommer 2001 in die USA und erlebt dort die Anschläge vom 11. September, die ihn und alle anderen Muslime plötzlich unter Generalverdacht stellen.
Im Laufe der nächsten Wochen gab es Gerüchte, dass Araber und Muslime erst verhört und dann des Landes verwiesen wurden. […] Ich sah meine dunkle Haut, bemerkte die besorgten Blicke, sobald ich das R in meinem Namen zu sehr rollte. Lange Zeit hatte ich mich immer anders als die anderen gefühlt. Nun wurde ich einer anonymen Masse zugeordnet: Araber. Muslim. Ich war jetzt einer von ‚denen’.
Doch in seinem Umfeld lernt Rasa auch viele Muslime kennen, die sich gegen die Anti-Terror-Gesetze der Bush-Administration engagieren. Er diskutiert, liest Marx und andere linke Theoretiker, Schriften über Postkolonialismus und Geopolitik. Zurück in seiner arabischen Heimat wird er dann Teil der Bewegung des Arabischen Frühlings. Doch die Restauration kommt schneller als gedacht und Rasa schwankt zwischen der Verteidigung der gescheiterten revolutionären Ideale und dem Rückzug ins Private: dem Aufgeben.
Der Hauptschauplatz seiner Auseinandersetzung mit dem Erbe der gescheiterten Revolution ist dabei die titelgebende Kneipe „Guapa“. Sie stellt einen der wenigen Freiräume für Menschen in der Stadt dar, die aus der Norm fallen. Für Revolutionäre, Lesben, Schwule, und viele mehr. Hier wird bis in die Nacht diskutiert und dann später, hinter verschlossen Türen, ausgelassen gefeiert. Doch auch das „Guapa“ ist gefährdet, auch hier klopfen zum Ende des Romans immer wieder die Gewehrkolben des Regimes an die Tür. Die Welt verengt sich zunehmend um Rasa und seine Freunde.
Guapa von Saleem Haddad ist ein Roman, der mir durch die Augen des Protagonisten Rasa eine Welt vorgeführt hat, die ich bisher nur oberflächlich kannte. Der Detailreichtum und die Ausdruckskraft, mit der die arabische Welt ergründet wird, haben mich beeindruckt und mitgerissen. Sehr lesenswert!
Guapa
Aus dem Englischen von Andreas Diesel
Albino Verlag
16,99 € | 392 Seiten
Erschienen am 15.3.2017