Robert Seethaler: Ein ganzes Leben

In seinem Roman Ein ganzes Leben (Hanser Berlin) erweckt Robert Seethaler nach dem großen Erfolg von Der Trafikant (Kein & Aber, 2012) eine archaische Bergwelt zum Leben und entwirft damit ein gänzlich anderes Szenario als im Vorgänger.

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben

Um es schon einmal vorweg zu nehmen: Die rasante Verquickung von persönlichem Schicksal und Zeitgeschichte, die Der Trafikant zu einem Pageturner ohne jede negative Konnotation machte, kann Ein ganzes Leben nicht aufbieten. Will es auch nicht, und wahrscheinlich hätte die Wiederholung des Erfolgsrezepts notwendig zum Scheitern führen müssen.

Ein ganzes Leben ist anders. Allerdings gar nicht so sehr auf sprachlicher Ebene. Da zeigt sich wieder deutlich der gewandte Erzähler Seethaler. Sehr gekonnt wird die Geschichte erzählt, sparsam sind Beschreibungen und Gefühlsregungen eingestreut, nie wirkt etwas zu viel oder zu ausführlich. Die Sätze sitzen, könnte man sagen.

Ganz anders angelegt ist vor allem der Inhalt. Denn es geht weit raus aus der Metropole Wien, auch noch weiter raus als das Heimatstädtchen des Trafikanten. Ein ganzes Leben verschlägt uns mitten ins Gebirge, in eine archaische Welt, die im Winter von metertiefem Schnee bedeckt ist und wo im Sommer spärlich die Sonne zwischen den Berggipfeln vorbeischeint.

Die Hauptfigur ist Andreas Egger, der sich zeitlebens durch eine einfache, gerade Art auszeichnet. Nie verliert er mehr Worte als unbedingt nötig, nie beschwert er sich, streitet oder lamentiert. Allein harte Arbeit prägt sein Leben, da er aus schwierigsten Verhältnissen kommt, keinerlei Ausbildung genossen hat und sein linkes Bein lädiert ist, weshalb er zeitlebens hinkt.

Andreas Egger galt zwar als Krüppel, aber er war stark. Er konnte anpacken, verlangte wenig, redete kaum und vertrug die Sommerhitze auf den Feldern genauso wie die beißende Kälte im Wald. Er nahm jede Arbeit an und erledigte sie zuverlässig und ohne zu murren.

Die tiefe Ruhe kommt aus einer dunklen Vergangenheit. Als Waisenkind ist er auf einem abgelegenen Hof aufgewachsen. Man lässt ihn durchgängig spüren, dass sein Leben allein der Gnade des Gutsherrn zu verdanken war. Er wird bei kleinsten Zwischenfällen geprügelt, misshandelt, verkrüppelt. Bis er stark genug wird, um sich aufzulehnen und zu gehen.

Dankbarkeit für das Leben, das ganze Leben, das ihm geblieben ist, zeichnet sein Wesen aus. Schwere Arbeit macht ihm nichts, und Stück für Stück erspart er sich ein wenig Geld, um eine abgelegene, verlassene Hütte herzurichten und sich ein eigenes Heim zu schaffen. Nach all den Erniedrigungen, Tiefschlägen und Erschütterungen schließlich ein zu Hause.

Die neue Geborgenheit im Rücken blüht er geradezu auf und verliebt sich in die Bedienung des Wirtshauses. Diese Liebe soll ihn weder gesprächiger noch lustiger machen, doch auch Marie, seine Geliebte, ist keine Frau großer Worte. Die beiden verstehen sich auf einer basalen Ebene. Das Glück scheint Egger plötzlich hold zu sein, die dunklen Tage endgültig vergangen. Doch es soll ganz anders kommen, denn was ihm zunächst die Menschen angetan hatten und er ihnen wieder abtrotzen konnte, soll sich nun die Natur holen. Doch auch die Menschen haben noch nicht genug von Egger gefordert.

Ein ganzes Leben von Robert Seethaler beschreibt in einer dramatisch geschwungenen Kurvenbewegung das Leben Eggers. Ein stetes „Wie gewonnen, so zerronnen“, das vor der schroffen Kulisse des Gebirges eine großartige Schwere und Größe gewinnt. Doch bewahrt sich der Roman davor, lediglich eine Abwärtsspirale zu zeichnen. Die Hoffnung ist der wichtigste Begleiter Eggers, sie sorgt dafür, dass er sich nach jedem Tiefschlag wieder berappelt, jedes Mal wieder aufsteht und weitermacht. So schwer es ihm auch fallen mag.

Vielleicht ist es auch nicht nur die Hoffnung, sondern eine gewisse devote Art dem übermächtigen Schicksal gegenüber, das auf dem katholisch geprägten Bergland von unergründlichen Wegen nur so strotzt. Allerdings muss es schon ein sehr grausames Wesen sein, das einem Menschen Qualen wie die Eggers antun kann. Sehr alttestamentarisch wirkt das ganze, ein wenig erinnert Ein ganzes Leben an die Hiob-Geschichte.

Vor allem ist der kleine Roman aber die Geschichte eines Mannes, der älter wird und sich den Veränderungen um ihn herum immer weniger stellen kann. Trotzt er der menschlichen Grausamkeit und den Gewalten der Natur anfangs noch, so steht er mit fortschreitendem Alter den gesellschaftlichen und strukturellen Veränderungen immer hilfloser gegenüber, bis er sich auch in dieses, sein letztes Schicksal fügt: des alten Mannes aus alter Zeit.

Am Ende erinnert Ein ganzes Leben damit dann doch ein wenig an den Trafikanten. Denn Robert Seethaler lässt die Leser*innen auch anhand der Geschichte von Andreas Egger den Lauf der Zeit erleben. Nur verhält es sich hier genau entgegengesetzt: Geht Franz Huchel aus dem Dorf im Salzkammergut nach Wien, um dort ein neues Leben zu entdecken und seinen Platz zu finden, wird Andreas Egger im Bergdorf von der Moderne eingeholt. Ein wenig ist Ein ganzes Leben damit eine entschleunigte Variation des Vorgängerthemas. Dies kommt auch in der titelgebenden, viel längeren geschilderten Zeit zum Ausdruck.

Ein ganzes Leben von Robert Seethaler hat mich durch seine Sprachgewalt und seine archaische Einfachheit vor dem Panorama der Alpen beeindruckt. Ohne ausgetretene Klischees zu sehr zu bedienen, erzählt er eine Modernisierungsgeschichte, die das Leben Andreas Eggers prägt. Der Text ist auch sehr schön komponiert – meiner Meinung nach hätte es die Gattung „Novelle“ noch besser beschrieben. Aber der Verzicht auf dieses Label ist vermutlich auch einer Modernisierungsgeschichte geschuldet; wer kauft schon Novellen?

Robert Seethaler: Ein ganzes LebenRobert Seethaler

Ein ganzes Leben

Hanser Berlin

155 Seiten | 17,90 €

Erschienen 2014

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

4 Kommentare

  1. Lieber Stefan, im Zuge meines Buchreferats über den Roman – oder nach belieben die Novelle – ,,Ein ganzes Leben“ bin ich auf diese Seite gestoßen. Da ,,Buchreferat“ wahrscheinlich die meisten wundern lässt, muss ich zuvor anmerken das ich 15 Jahre alt und noch Schüler bin. Nicht desto trotz möchte ich mein Kommentar zu dieser expliziten und gründlichen Inhaltsangabe abgeben. Nun, selten treffe ich auf so einen Text, der mich allein rethorisch und im weiteren Zuge auch vom Sinn, so sehr beeindruckt. Ich frage mich wie viele Menschen sich hinsetzen und ein Buch so gründlich und mit den Gedanken alleine beim Buch, lesen und im Endeffekt im Stande sind so einen Text darüber zu verfassen. Das Kommentar ist einfach nur adäquat, präzise und trotzdem so poetisch, dass ich mir jetzt wirklich die Zeit genommen habe, mein Lob an dich zu richten. Liebe Grüße, Adam

    • Lieber Adam,
      Ganz lieben Dank für deinen Kommentar! Es freut mich wirklich riesig, dass dir meine Rezension so gefallen hat. Genau dafür schreiben wir ja. Und ich hoffe, dass die Rezension dir auch ein wenig bei deinem Referat helfen konnte.
      Liebe Grüße,
      Stefan

  2. Hallo, habe gerade den Podcast von Senor Rolando mit Euch gehört. Das hat Lust auf Euren Blog gemacht und dann finde ich auch direkt hier eines meiner Lieblingsbücher-toll! Schöner Bericht über „ein ganzes Leben“.
    LG Isabel

    • Hallo liebe Isabel! Uns hat der Podcast viel Spaß gemacht – schön dass er auch dir gefallen hat! Und „Ein ganzes Leben“ fand ich wirklich gut, lies dann unbedingt auch den „Trafikanten“, falls du es nicht eh schon gelesen hast.
      Liebe Grüße, Stefan (& Juliane, die sich auch sehr über das Kompliment freut)

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