Clemes J. Setz: Indigo

Oft beginne ich Bücher, ohne mich vorher über Autor oder Handlung des Werkes zu informieren. Ich will das meistens nicht, weil ich denke, dass es mich zu sehr bei der Lektüre beeinflusst. Ich will das Buch ganz unvoreingenommen auf mich wirken lassen. So war es auch bei Clemens J. Setz Roman. Nur führte mich diese Vorgehensweise bei Indigo (Suhrkamp) auf eine etwas falsche Fährte, die allerdings das Lesen unglaublich spannend gemacht hat. Bis ich anfing, zu googeln.

Clemens Setz Indigo

Indigo beginnt rein formal wie die meisten Bücher mit einem kurzen Abriss der Handlung und einer kleinen Biografie des Autors. Hier wurde ich zum ersten Mal aufmerksam. Indigo handelt von einem ehemaligen Mathematiklehrer, der an der Helianau unterrichtet hat, einem Internat für Kinder mit einer speziellen Aura. Diese Kinder haben das so genannte Indigo-Syndrom, welches bewirkt, dass Menschen, die ihnen zu nah kommen, Krankheitssymptome wie Übelkeit, Schwindel und Durchfall bis hin zur Bewusstlosigkeit durchleben. Diese Krankheit belastet die Kinder, aber auch alle Personen in ihrer näheren Umgebung. Die Mutter eines Indigo-Kindes beschreibt das Verhältnis zu ihrem Sohn wie folgt:

Sie sehe es mehr als Riesenrad. In einem Riesenrad gebe es verschiedene Kabinen und der Abstand zwischen den Kabinen bleibe immer derselbe, sie könne sich einander nicht annähern, das lasse die Konstruktion einfach nicht zu. Und so fahre man eben im Kreis, die ganze Zeit, mehr oder weniger getrennt voneinander, jeder für sich.

Der Mathematiklehrer beobachtet in seiner kurzen Zeit an der Helianau seltsame Dinge. Einige Kinder werden in Verkleidungen gesteckt und mit Autos weggeschafft. Als der Lehrer versucht, Nachforschungen anzustellen, wird er der Schule verwiesen. Dennoch lässt er sich nicht von seiner Detektivarbeit abbringen und wir als Lesende begleiten ihn dabei. Gleichzeitig erhalten wir Einblick in das Leben eines Schüler, Robert Tätzel. Die Geschichten beider sind miteinander verwoben und im Laufe der Handlung tauchen immer mehr Fragen auf: Was hat es mit dem Indigo-Syndrom auf sich? Was passiert mit den Kindern, die in den Autos weggeschafft werden? Warum verhält sich der Schulleiter so seltsam? Und wie ist es möglich, Kinder mit solch einem Syndrom überhaupt zu sozialisieren?

Die Kurzbiografie des Autors zu Beginn des Buches erzählt nun, dass Clemens Setz genau dieser Mathematiklehrer sei. Er lebe derzeit allerdings zurückgezogen in Österreich und leide an den Spätfolgen der Indigobelastung. Oho, dachte ich. Eine autobiografische Erzählung, künstlerisch verpackt als belletristischer Roman. Das fand ich sofort spannend. Das erste Viertel des Buches habe ich verschlungen. Dann allerdings wurde ich neugierig und wollte mich nicht nur auf den Romantext verlassen. Also fing ich an, zu googlen. Zunächst suchte ich nach dem Indigo-Syndrom. Aber, Überraschung, diese Krankheit gibt es so nicht. Dann las ich mir den Wikipedia-Eintrag zu Clemens Setz durch. Ein ganz normales Autorenleben, keine Zurückgezogenheit. Mathematik hatte er zwar studiert, jedoch nie in diesem Fach unterrichtet. Tja, da hat mich die Einleitung des Buches wohl in die Irre geführt – sehr gutes Marketing, lieber Suhrkamp Verlag. Das war natürlich ein klitzekleiner Schock, aber im Vorfeld auch etwas naiv von mir. Die Gespanntheit auf den weiteren Handlungsverlauf nahm ein bisschen ab, blieb aber weiter auf einem hohen Level bis zum Schluss.

In Indigo werden hauptsächlich zwei Erzählperspektiven beleuchtet, die des Ich-Erzählers Clemens Setz und jene seines ehemaligen Schülers Robert Tätzel. Beide Perspektiven werden auf verschiedenen Zeitebenen erzählt, die sich am Ende des Romans schließlich treffen. Setz Nachforschungen zum Indigo-Syndrom und zu den Vorfällen im Internat werden durch eingestreute Beweismaterialien und Dokumente, die er in Mappen sammelt, veranschaulicht. Dieser dokumentarische Stil lockert nicht nur die Lektüre auf, sondern regt auch zum Recherchieren an.

Clemens Setz Indigo

Setz Selbstinszenierung als Protagonist ist dabei besonders interessant. Zu Beginn war mir diese Figur sehr sympathisch, mit fortschreitender Handlung jedoch immer weniger. Auch mit Robert kann ich mich nicht identifizieren, wird er doch durchweg als sehr unempathischer Mensch dargestellt. Natürlich hat dies mit dem Indigo-Syndrom zu tun, welches ihn seit seiner Kindheit belastet.

Robert war nicht gut in Weinen. Es lag ihm nicht. Er kannte viele Leute, die richtig gut darin waren, die einem wirklich was vorweinen konnten, eine ganze Geschichte, eine Etüde von Chopin, einen Gesellschaftsvertrag, einen Karrieresprung. Aber er konnte das nicht. Hatte es nie gelernt.

Nichtsdestotrotz habe ich Indigo mit viel Vergnügen sehr schnell ausgelesen, weil der Plot  so unglaublich spannungsgeladen ist. Immer wieder werden neue Spannungsbögen aufgebaut und Leerstellen entstehen, die ich als Leserin so gern schließen wollte und deshalb immer weiterlas. Indigo spielt mit der Wahrnehmung der Lesenden. So klappte ich das Buch am Ende zu und fragte mich, ob ich etwas übersehen hatte. Am liebsten hätte ich den Roman gleich noch einmal gelesen, um alle Indizien aus einem anderen Blickwinkel noch einmal zu untersuchen. Dieses Buch kann die Lesenden in den Wahnsinn treiben, aber durchaus auf eine positive Art und Weise. Wer sich von postmoderner Literatur bisher gelangweilt fühlt, sollte Indigo lesen.

P. S. Hier könnt ihr noch mehr über das Buch erfahren und auch sehen, wie es entstanden ist.

Clemens Setz Indigo

Clemens J. Setz

Indigo

Suhrkamp

ISBN: 978-3-518-42324-0

2012 erschienen

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