Nach großen Entscheidungen fragen sich viele Menschen oft, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie hier und da eine andere Richtung gewählt hätten. Manchmal ist es auch so, dass sich Begebenheiten im Leben ganz schicksalhaft anfühlen, irgendwie ferngelenkt. Das erleben auch Marlena, Andries und Szymon in Lot Vekemans’ Debütroman Ein Brautkleid aus Warschau (Wallstein). Die Geschichte der drei ProtagonistInnen ist auf unglaubliche Weise miteinander verwoben und doch muss jede und jeder auch ihr/sein eigenes Schicksal tragen und ertragen.
Erzählt wird zunächst Marlenas Geschichte. Sie ist Mitte Zwanzig und wohnt bei ihren Eltern auf dem polnischen Land. Auf einem Ausflug nach Warschau lernt sie Natan kennen. Natan ist Amerikaner mit polnischen Wurzeln, der in Polen verweilt, um mehr über seine Vorfahren herauszufinden. Die beiden verlieben sich und verbringen eine wunderschöne Zeit zusammen in Warschau. Doch Natan muss irgendwann abreisen, Marlena bleibt zurück und erfährt kurz darauf, dass sie schwanger ist. Auf Rat von Natans Cousin erzählt sie ihrem Geliebten nichts von der Schwangerschaft, sieht keine Chance in ihrer Liebe zu dem US-Amerikaner und beschließt zu flüchten. Über eine Heiratsvermittlung gelangt sie zu Andries in die Niederlande. Beide führen eine Zweckehe, doch Andries nimmt Marlenas Sohn Stan an, als wäre es sein eigener. Nach vielen Jahren kehrt Marlena schließlich zurück nach Polen zu ihrer Familie. Sie nimmt Stan mit und bricht damit Andries’ Herz. Doch ganz gibt er seinen Ziehsohn nicht auf. Hier setzt nun die Geschichte von Andries ein, welche aus seiner Perspektive erzählt wird. Auch er ist durch das Schicksal geprägt worden, wird oft fremdbestimmt durch seine Schwester und sieht nun zum ersten Mal etwas, wofür er kämpfen will: die Liebe zu seinem Sohn Stan. Und noch eine dritte Erzählperspektive wird eröffnet: die von Szymon. Er ist Natans Cousin und nimmt Marlena nach ihrer Rückkehr schließlich bei sich auf. Auch er erzählt uns seine Lebensgeschichte, die nicht weniger berührt als die der beiden zuvor.
Thematisch reicht Vekemans’ Roman von Liebe über Flucht bis zu den Anstrengungen eines Lebens auf dem Land. Die Autorin beschreibt verschiedene Arten von Liebe. Zu Beginn erfahren wir von der jugendlichen, träumerischen Liebe zwischen Marlena und Natan. Vekemans erzählt diese so authentisch und ganz ohne Kitsch, dass es mir ein großes Vergnügen war, das Pärchen auf seinen Treffen in Warschau zu begleiten. Spätestens als die beiden über kackende Tauben sprechen, war mir dieses Paar so nah, wie es viele Romanfiguren sonst nicht sind:
Wenig später lagen Natan und ich im Gras des Sächsischen Gartens. Wir schauten in die Blätter der Bäume. Ich zeigte auf eine Taube. „Gleich kackt sie, und dann fällt alles genau auf uns“, sagte ich. „Tauben kacken nie direkt nach unten“, meinte Natan.
Dieser bodenständige Schreibstil hat mich Ein Brautkleid aus Warschau innerhalb weniger Tage verschlingen lassen. Aber nicht nur das. Auch die Erzählstruktur ist eine ganz besondere. Die Autorin schafft es, drei Erzählperspektiven miteinander zu verweben, ohne dass es für die Lesenden verwirrend wird. Die drei Geschichten stehen für sich und haben doch Einfluss auf die der beiden anderen. So stellt Vekemans sehr anschaulich die Schicksalhaftigkeit eines Menschenlebens heraus. Marlenas, Andries’ und Szymons Geschichten stehen jeweils für sich und wären doch wohl nie so verlaufen ohne die jeweils anderen Figuren. Mir fiel es wirklich schwer, unter den dreien eine Lieblingsfigur auszuwählen. Aber das ist wohl auch gar nicht nötig. Das Erstaunliche an Vekemans’ Roman ist, dass mir alle drei Figuren schnell ans Herz gewachsen sind und das obwohl ich manche Entscheidungen von jedem und jeder einzelnen nicht immer nachvollziehen konnte. Es ist genau diese Figurenzeichnung, die Ein Brautkleid aus Warschau zu einem lebensnahen Stück Erzählkunst macht. Dabei verliert Vekemans nie die erzählerische Balance zwischen Niederschlägen und gemäßigteren Zeiten aus den Augen. Ihre Sprache ist unaufgeregt und doch malerisch, vor allem wenn sie das Landleben in den Niederlanden beschreibt. Ich bin hin und weg und habe an diesem Buch einfach nichts auszusetzen.
Weitere Besprechungen findet ihr u. a. auf We read Indie und leseschatz.
Lot Vekemans
Ein Brautkleid aus Warschau
Aus dem Niederländischen von Eva M. Pieper und Alexandra Schmiedebach
Wallstein Verlag
ISBN: 978-3-8353-1601-0
Anfang 2016 erschienen
Hallo Juliane,
dieses Buch interessiert auch mich sehr. Verbindet dich persönlich etwas mit der polnischen Kultur? Warst du vielleicht auch schon in Warschau? Oder warum hast du dir ursprünglich dieses Buch gekauft?
Liebe Grüße,
Janine
Liebe Janine,
ich war schon ein paar Mal in Warschau und vor ein paar Jahren habe ich mit FreundInnen eine Interrail-Tour durch Polen gemacht. Das war wirklich schön. Da gibt es unheimlich viel zu entdecken, auch landschaftlich. Aber das war eigentlich weniger Grund, weshalb ich dieses Buch unbedingt lesen wollte. Beim Durchblättern der Frühjahrsvorschauen bin ich irgendwie an dem schönen Cover hängen geblieben — und schwupps –kam Vekemans‘ Buch direkt auf meine Wunschliste. Ich wurde auf jeden Fall nicht enttäuscht.
Hast du denn eine besondere Beziehung zu Polen oder wie bist du auf das Buch aufmerksam geworden?
Die Stadt Warschau prangt da ja ziemlich auffällig im Titel, aber man kann tatsächlich mindestens genauso viel über das niederländische Landleben erfahren. Diesen Kontrast der beiden Länder mag ich ebenfalls an dem Roman. Hach…ich bin einfach begeistert. 😀
Liebe Grüße
Juliane
Moin und vielen Dank für die nette Verlinkung zum Leseschatz!
Herzliche Grüße aus Kiel, Hauke
Sehr gern. 🙂
Liebe Grüße aus Berlin
Juliane
Liebe Juliane,
vielleicht kennst du mich noch. Hier ist Hanna aus Jena. 🙂
Ich verfolge nun deinen Blog von Anfang an und bin schwer begeistert. Du machst mir die Bücherwelt, neben den ganzen wissenschaftlichen Abhandlungen über Goethe und Schiller in der Uni, wieder sehr schmackhaft und interessant. Ich versuche mich durch die interessanten neuen kleinen Geschenke durchzulesen und komme kaum hinter her. Du schreibst sehr spannend, so dass man wirklich wieder Lust hat sich in die große Bücherwelt zu stürzen. Es ist schön dir zu folgen. Das wollte ich dir nur mal schreiben. Ich hoffe dir geht es gut.
Ganz liebe Grüße Hanna
Liebe Hanna,
natürlich kenne ich dich noch! Wie könnte ich jemals das „tolle“ Döblin-Seminar im allerersten Semester vergessen?! Und natürlich auch unsere wilde Partyzeit im Anschluss… Haha
Ich bin beim Lesen deines Kommentars grad ein bisschen rot geworden. Ich freu mich wirklich riesensuperdoll über dein positives Feedback! Wenn ich Menschen mit meinen Beiträgen zum Lesen guter Bücher bewegen kann, macht mich das echt glücklich. 🙂 Danke für die ganzen Komplimente und für’s Folgen. Ich hoffe, dir geht es auch gut.
Viele liebe Grüße
Juliane