Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte

Mit Nach einer wahren Geschichte (DuMont) erscheint nun der vierte Roman der französischen Bestsellerautorin Delphine de Vigan auf Deutsch. Das autobiographische Thema des 2013 erschienen Vorgängers Das Lächeln meiner Mutter (Droemer Knaur) wird wieder aufgegriffen. Diesmal steht jedoch eine andere Person im Mittelpunkt.

Delphine de Vigan

Einige Monate nach dem Erscheinen meines jüngsten Romans hörte ich auf zu schreiben. Fast drei Jahre lang schrieb ich keine Zeile.

Der erste Satz des Buchs führt die Ich-Erzählerin als Person ein, die im Einsetzen des Textes ihre Schreibblockade überwunden hat. Zu Anfang des ersten Kapitels wird dann schnell klar, um wen es sich bei der Ich-Erzählerin handelt: Delphine de Vigan, die Autorin selbst. Diese Gleichsetzung ist ein geschickter Schachzug, der gleich an Felicitas Hoppes autofiktionalen Roman Hoppe denken lässt. Schreibt diese jedoch in ihrem Roman eine Traumbiografie, erdichtet sich selbst als andere Person neu, so zielt Vigans Ansatz zunächst auf einen gänzlich anderen Effekt ab: ein Spiel mit den Erwartungen der LeserInnen, mit dem Konstrukt von Identität und Autorschaft.

Der Plot rankt sich um die Beziehung der Ich-Erzählerin zu einer nie mit vollem Namen, sondern nur verkürzt „L.“ genannten Frau. Diese taucht wie zufällig im Leben der Erzählerin auf und wird Stück für Stück zu einem unverzichtbaren Bezugspunkt in deren Leben. Hat dies zunächst eine beflügelnde Wirkung auf Delphine, so mehren sich mit der Zeit Momente des Zweifels an der Zufälligkeit der Begegnung, an der Integrität der Person „L.“ und an der Natur der Freundschaft zwischen den beiden. Doch die Erzählerin hat andere Probleme: in erster Linie die Schreibblockade, die ihre Lebensgrundlage als Autorin bedroht, sich aber auf immer mehr Aspekte ihres Alltags ausbreitet. Auch ihr letztes Buch, der eingangs erwähnte Bericht Das Lächeln meiner Mutter, setzt ihr immer mehr zu. In diesem beschreibt sie auf sehr persönliche Weise das Leben ihrer Mutter und ihrer Familie. In anonymen Briefen, deren Drohungen immer konkreter werden, wird ihr dies nun zum Vorwurf gemacht. L. steht Delphine bei, ist die einzig Eingeweihte, während Delphine ihre Kinder, Ihren Geliebten und ihre langjährigen Freunde mit diesen Dingen nicht belasten will. Die beiden werden zu einer Schicksalsgemeinschaft und L.s Hilfe immer unentbehrlicher für Delphine. Schon bald beantwortet L. Delphines Emails, schreibt Briefe in ihrem Namen und beantwortet sogar das Telefon der mittlerweile gemeinsamen Wohnung. Beginnt dies alles als Spiel, als mitfühlende Hilfe und augenzwinkerndes Verstellen, so kippt es mit zunehmender Dauer immer mehr in ein Machtgefälle, aus dem Delphine nicht mehr zu entkommen weiß und das sich in einen nicht zufällig an Stephen King erinnernden Psychohorror steigert. Dazu später mehr.

Delphine de Vigan

Der bedruckte Einband nimmt die Gestaltung des Covers noch einmal auf.

Nun ist es eigenartig: Das Buch offenbart etwa zwei Drittel seiner Handlung auf den ersten drei Seiten. Liest man noch den Klappentext, ist der Inhalt dieser zwei Drittel schon recht gut skizziert, rein handlungstechnisch fügt der Text nur noch wenig hinzu. Wie kommt es nun, dass das Buch eine derartige Spannung aufbauen kann? Hier lassen sich vor allem zwei Komponenten nennen, die wie Zahnräder ineinander greifen und die Spannung beständig befördern: die Erzählperspektive und die Gleichsetzung der Erzählerin mit der Autorin. Die Ich-Perspektive rückt die LeserInnen sehr nah an die Erzählerin, lässt sie Teil haben an ihren innersten Regungen, Zweifeln und Selbstbetrügen. Die Gleichsetzung von Erzählerin und Autorin lädt diese Nähe dazu noch mit einer Authentizität auf, für die Werke der „reinen“ Fiktion deutlich mehr aufbieten müssten. Derart aufgeladen verzeiht man dem Buch gern einige Längen in der ersten Hälfte und lässt sich vom sprachlich geradlinigen, bisweilen geradezu reißenden Erzählfluss willig tragen. Die Frage, was als nächstes passieren wird, bleibt durch das langsame Aufblättern der Beziehung zwischen Delphine und L. und der gleichzeitigen Verwischung der Grenzen von Einbildung und Realität, von der dieses Aufblättern begleitet wird, beständig spannend.

Viel Handlung bietet der Roman dabei nicht, und neu ist das alles auch nicht – denken wir nur an Stephen King, aus dessen Werken Sie und Stark die Mottos der einzelnen Teile im Buch entnommen sind und an dessen Roman Misery vor allem das Ende stark erinnert. Doch der Roman verlässt sich nicht nur auf seine beiden Triebräder Identifikation und Authentizität, die durchaus einer mäßigen Geschichte Spannung verleihen können. Ganz im Gegenteil: Der Roman nutzt seine Triebräder für ein Spiel mit den Erwartungen der LeserInnen und erweitert die bloße Handlung um eine zweite Ebene. Immer wieder mischen sich im Verlauf des Romans die Zweifel der Erzählerin an den Motiven L.s mit denen der LeserInnen an der Identität der Erzählerin: Wer schreibt hier? Und: Wer schreibt hier was? Was halten wir hier mit diesem Buch in unseren Händen?

Gerade diese zweite Ebene macht das Buch zu einer ebenso spannenden wie bereichernden Lektüre, die nicht nur ein Schicksal erzählt, sondern den LeserInnen als Rätsel gegenübertritt, das seine literarischen Grenzen durchbricht und die etablierten Lesegewohnheiten und -konventionen auf untergründige, leise Art zu hinterfragen versteht.

Delphine_de_Vigan_CoverDelphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte

DuMont

ISBN: 978-3-8321-9830-5

erscheint am 17. August 2016

 

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

6 Kommentare

  1. Wortlichter

    Es würde mich wahnsinnig machen, wenn am Ende nicht aufgelöst wird, was nun Fiktion ist, oder nicht. 😀 Das kommt nicht auf meine Leseliste. Ich grübele sonst zu lange darüber nach, ohne je eine Antwort zu bekommen, haha.
    Liebe Grüße, Anja

    • Das könnte Dir nur die Autorin erzählen! Es ist aber meiner Meinung nach gerade eine Stärke des Buchs, dass Autobiographie und Fiktion unlösbar verwoben sind und damit die Konzepte von Authentizität und Autorschaft ständig verhandelt werden.
      Offene Enden sind aber Geschmackssache, keine Frage!

  2. Ich habe es auch schon begeistert gelesen und bin froh, dass es sich anscheinend nicht um ein „Frauenbuch“ handelt. Es war spannend, berührend und niveauvoll .

    • Dre Gedanke an ein mögliches „Frauenbuch“ oder dass ich als Mann nicht das Zielpublikum sein könnte ist mir kein einziges Mal gekommen, also von meiner Seite komplette Entwarnung!

  3. Das Buch liegt schon auf meinem Prioritätenstapel und nach deiner Rezension kann ich es kaum noch abwarten, es zu lesen!

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