Die Literaturkritik lenkt ihren Blick oft auf Romananfänge, insbesondere auf den ersten Satz einer Handlung. Nicht umsonst kennt der Großteil unter uns Leseratten wohl den berühmtesten ersten Satz der Literaturgeschichte, jenen aus Tolstois Anna Karenina. Auch Nele Pollatschek beginnt ihren Debütroman Das Unglück anderer Leute (Galiani Berlin) mit einem starken Satz: „Ich hasse, ich hasse, ich hasse sie.“ Das Gefühl, welches mit diesem Ausruf transportiert wird, ist maßgeblich für die Ich-Erzählerin Thene und deren Geschichte.
Thene ist 25 Jahre alt, studiert in Heidelberg und Oxford, hat einen festen Freund und führt eigentlich ein ruhiges, fast schon spießiges Leben. Eigentlich. Wäre da nicht ihre verrückte Familie.
Da sind zum einen Thenes Eltern, die schon lange getrennt sind. Ihr Vater Georg hat sich, nachdem er fünf Jahre lang aus Thenes Leben verschwunden war, als homosexuell geoutet und lebt jetzt mit seinem Partner zusammen in Berlin. Beide ergänzen sich hervorragend. Wenn Georg sich mal wieder in eine seiner halbwahren Geschichten hineinsteigert oder hektisch wird, ist es Christoff, der ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholt.
Neben diesem leicht verschrobenen Vater hat Thene auch noch eine Mutter, Astrid, mit der die Ich-Erzählerin so gar nicht klar kommt. Beide haben sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Leben und geraten regelmäßig aneinander. Zudem hat Astrid ein enorm hohes Geltungs- und Aufmerksamkeitsbedürfnis sowie die Gabe, „Problem-Männer“ anzuziehen. Nachdem sich Thenes Eltern getrennt hatten, bekam Astrid noch zwei weitere Kinder von zwei verschiedenen Männern. Thene liebt ihren pubertierenden Halbbruder Elijah, der gern Zaubertricks vorführt. Mit der Halbschwester Trixie, die noch ein Kleinkind ist, kann die Ich-Erzählerin dagegen gar nichts anfangen. Eine Patchwork-Familie par excellence, die darüber hinaus von genauso komplizierten Großeltern ergänzt wird.
So bezieht sich der im Teaser zitierte erste Satz aus Thenes Mund – leicht zu erraten – natürlich auf ihre Mutter. Dieses Hassgefühl nimmt die Ich-Erzählerin im weiteren Verlauf der Handlung genauer unter die Lupe:
Es gibt Menschen, die liebt man, aber man kann sie nicht leiden. […] Im Laufe der Jahre hatte sich diese Feststellung zur Standarderklärung meiner Beziehung zu meiner Mutter gemausert. Aber im stillen Kämmerchen meines Herzens war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob das noch stimmte. Oder ob ich nur behauptete, dass ich sie liebte, ohne sie leiden zu können, weil man seine Mutter nun mal zu lieben hat. Weil „Du musst deine Mutter lieben“ mir wie das zweitgrößte emotionale Gebot der Neuzeit erschien. Nur überschattet von „Du musst deine Kinder lieben“, was bestimmt auch nicht immer leicht ist.
Nele Pollatschek beleuchtet eine Mutter-Tochter-Beziehung, wie sie wohl in vielen Familien vorzufinden ist. Obwohl hier der Fokus auf den weiblichen Part der Familie gelegt wird, ist dies keinesfalls „weibliche Literatur“. Die Mutter-Tochter-Beziehung als spezielle Verwandtschaftskonstellation kann durchaus auch als allgemeine gelesen werden. Die Autorin erläutert auf charmante Weise die Unausweichlichkeit der familiären Bindung, die für manche Menschen das große Glück, für andere aber einfach nur eine Qual darstellt. Doch warum gibt sich die volljährige Thene überhaupt mit ihrer Mutter ab? Nun ja, sie bezahlt ihr nun mal das teure Studium.
All das wäre eigentlich schon chaotisch genug, aber es kommt noch härter. Ausgerechnet am Tag der Masterverleihung in Oxford wird Thenes Mutter auf der Autobahn überfahren. Wie schon so oft in Thenes Leben, stiehlt ihr Astrid auch dieses Mal die Show. Die ganze Familie ist in Aufruhr. Für die Ich-Erzählerin beginnt eine stressige Zeit, in der sie ihre familiäre Vergangenheit Revue passieren lässt.
Nun möchte man meinen, dass dies vielleicht ein sehr trauriges Buch sei. Weit gefehlt. Bei aller Trauer um die tote Mutter lebt Das Unglück anderer Leute vor allem von Thenes trockenem Humor und ihrem abgeklärten Blick auf die Geschehnisse. Dabei behält sie stets einen kühlen Kopf und lässt sich selten von ihren Emotionen lenken. Thenes Gedankengänge sind sehr komplex. Gern setzt sie ihre Überlegungen in Beziehung zu Schriften von Marx, Shakespeare und Freud bis hin zu Vonnegut. Diese Intertextualitäten, die nie überheblich oder fehl am Platz wirken, sehe ich als große Stärke des Romans.
Hinzu kommt, dass Nele Pollatschek in ihrem Debüt nicht nur Anleihen aus der Philosophie, sondern auch aus anderen Wissenschaftsbereichen einfließen lässt. Dazu gehören Überlegungen zum Bereich der Statistik: Wie wahrscheinlich ist es, dass mehrere Mitglieder einer Familie kurz hintereinander sterben? Wieso ist der Zufallsmodus beim iPod nicht wirklich zufällig? Thene versucht immer wieder, sich die offensichtliche „Beklopptheit“ ihrer Familie rational herzuleiten:
Denn meine Mutter und mein Vater waren ursprünglich der gleiche Mensch. Sie hatten sich auch nur deshalb kennengelernt, weil sie Dipol-Dipol-Kräfte entwickelten und sich wie zwei identische Wassermoleküle angezogen hatten.
Das Unglück anderer Leute ist durchzogen von solchen lockeren, aber doch durchdachten Schlussfolgerungen der Ich-Erzählerin. Gepaart mit einer großen Portion Situationskomik wird dieses Debüt zu einem der besten, das ich in letzter Zeit gelesen habe. Der Roman überrascht (vor allem gegen Ende), er spielt mit den Erwartungen der Lesenden und behandelt das große Überthema „Familie“ auf eine freche Art und Weise. Darüber hinaus fand ich den Umgang der Autorin mit ihren Figuren besonders markant. Indem Pollatschek ihre Protagonistin Thene nach und nach neuen, plötzlichen und vor allem höchst unwahrscheinlichen Katastrophen aussetzt, spielt sie eine Art Göttin, die über der Ich-Erzählerin wütet. Vor allem literaturtheoretisch könnte Das Unglück anderer Leute in Hinblick auf die Sichtbarkeit der Autor_innen durch auffällige Eingriffe in den Plot von Interesse sein.
Bei diesem Debüt ist zu bemerken, dass die Hauptfigur Thene und die Autorin Nele Pollatschek sehr viele Überschneidungspunkte in ihren Leben aufweisen. Die Debütantin hat sehr eng an ihrem eigenen Erfahrungshorizont entlang geschrieben. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber umso gespannter bin ich nun auf ihr zweites Werk, wenn es denn eins geben wird.
Das Unglück anderer Leute jedenfalls ist ein fulminantes Debüt mit viel Witz und einer außergewöhnlichen Autorin-Figur-Beziehung, das mir noch lange im Gedächtnis herumgeistern wird.
Weitere interessante Besprechungen findet ihr u. a. auf Kapri-ziös und litblogkoeb.
Nele Pollatschek
Das Unglück anderer Leute
Galiani Berlin
ISBN: 978-3-86971-137-9
erschienen am 11.08.2016
Hallo Juliane,
ich bin gerade durch Zufall auf Dein Blog und Deine Rezension gestoßen … und habe das Buch gleich mal meiner Wunschliste hinzugefügt. Eine absolut interessante Perspektive zum Beleuchten der Mutter-Tochter Beziehung. Das Cover ist mir neulich in der Buchhandlung schon aufgefallen – aber ich bin weiter gelaufen. Nun werde ich nochmal zurück gehen 😉
Danke Dir & LG
Kati
Liebe Kati,
ich freue mich sehr über deinen Kommentar und auch, dass du dich auf meinen Blog „verirrt“ hast. 🙂
Und natürlich macht es mich besonders glücklich, dass ich dir ein Buch empfehlen konnte. Diese spezielle Mutter-Tochter-Beziehung fand ich auch sehr interessant. Zu Beginn dachte ich noch „Oh je, nicht, dass das jetzt so schwülstige Frauenliteratur wird.“ Aber das ist überhaupt nicht der Fall. Du wirst den Kauf nicht bereuen. Schreib mir doch gern nochmal, wenn du das Buch gelesen hast. Würde mich interessieren, ob es dir am Ende auch gefallen hat.
Liebe Grüße
Juliane
Eine sehr schöne Rezension, auch wenn mich das Buch leider gar nicht anspricht vom Thema her. Es scheint jedoch sehr schön konzipiert zu sein. Aber diese reiche Töchter- Literatur ist nur sehr bedingt mein Fall und so gar nicht meine Wellenlänge.Ich glaube das würde ich kein ganzes Buch durchhalten 😀 Das schlimmste Szenario in einem Buch für mich, ist das Selbstmitleid der priviligierten Hauptpersonen. Ich lese gerade Traurige Freiheit, wo es um eine junge Frau geht, die gerne Karriere machen würde, aber irgendwie nichts gelingt, obwohl sie immer wieder neue Chancen hat und alle Wege offen stehen. Es ist ein schönes Buch, da kann man nix sagen, aber dieses Selbstmitleid der Figur ist wirklich hart an meiner ertragbaren Grenze. Am liebsten würde ich die Hauptfigur einmal kräftig durchschütteln. 😀
Liebe Grüße, Anja
Liebe Anja,
vielen Dank für deinen Kommentar und das Lob. Ich hatte eher das Gefühl, dass Thene sich gern von ihrer Mutter losmachen will, dies aber aus finanziellen Gründen einfach nicht vollends tun kann. Selbstmitleidig war sie dabei aber gar nicht. Ich als eher „nicht-privilegierte“ Tochter (zumindest, was Geld angeht) konnte mich sogar sehr gut in Thene hineinversetzen und war zugleich wieder Stolz auf meine (finanzielle) Unabhängigkeit. Trotzdem würde ich bei finazieller Unterstützung seitens meiner Eltern wohl auch nicht „Nein“ sagen. Ich kann Thene da also irgendwie verstehen und sie gibt das Geld ja auch nicht für irgendwelche Markenklamotte etc. aus, sondern finanziert sich so ihr Traum-Studium.
„Traurige Freiheit“ sagt mir bisher noch gar nichts, werde ich aber gleich mal googeln. Aber ja, ich gebe dir vollkommen Recht: Zu viel Selbstmitleid (vor allem, wenn sie aus einer privilegierten Sicht heraus erzählt wird) nervt einfach. Bist du denn mit dem Roman schon durch? Oder hast du ihn abgebrochen, weil es unerträglich wurde? 😉
Liebe Grüße
Juliane