Der Begriff „Weißblende“ bezeichnet eine besondere Filmtechnik, mit der zwischen zwei Szenen ein weißer Flash erzeugt wird. Die Zuschauer sollen davon kurz geblendet, irritiert sein und es soll so eine Leerstelle markiert werden. Sonja Harter wählte den Namen dieses Effekts als Titel für ihr Romandebüt Weißblende (°luftschacht), welches im September diesen Jahres erschien und sogleich auf der Shortlist für „Das Debüt 2016“ gelandet ist.
Matilda steckt mitten in der Pubertät. Sie lebt zusammen mit ihrem wortkargen, eher unnahbaren Vater in einem engen Tal, irgendwo in Österreich. Früher hat dort auch noch ihre Großmutter gewohnt, bis sie in ein Heim musste. Sie vegetiere dort vor sich hin, sagt Matildas Vater. Matildas Mutter sei bei ihrer Geburt gestorben, auch das hat Matilda ihr ganzes Leben lang erzählt bekommen. Das junge Mädchen ist gut in der Schule, interessiert sich vor allem für Literatur, hat nicht viele Freunde, lebt ihr Leben so dahin. Dass das Dorf, in dem sie aufwächst, eine Welt für sich darstellt, wird schon zu Beginn des Romans deutlich. Tristesse ist allgegenwärtig. Der Besitz eines Autos ist in diesem Dorf das „Maß aller Dinge“, um spätestens mit 18 der Langeweile und Gleichförmigkeit endlich zu entkommen. Aus dieser Eintönigkeit heraus geschehen jedoch von Zeit zu Zeit schlimme Dinge, wie zum Beispiel das Verschwinden einer von Matildas Mitschülerinnen. Schnell wird sie gefunden: Der Schulwart hatte sie in seinem Keller eingesperrt und gefoltert. Ein aufsehenerregendes Ereignis, doch auch daran gewöhnt man sich im Dorf mit der Zeit, verschwundene Kinder werden in den Zeitungen zunehmend „nur mehr Randnotizen“.
Matilda nimmt diese Ereignisse wahr, beschreibt sie allerdings aus der Ich-Perspektive mit sehr nüchterner Stimme. Diese erste Erzählebene wird durch eine weitere Ich-Stimme, durch die Typographie klar abgegrenzt, immer wieder unterbrochen. Die zweite erzählende Person scheint eine Frau zu sein, welche sich in einer psychiatrischen Klinik aufhält. Doch wer sie ist, bleibt sehr lange unklar, bis Alain Bonmot in Matildas Leben tritt. Bonmot kommt aus Frankreich, aus dieser großen weiten Welt außerhalb des Tals. Matilda verliebt sich in ihn, wie sie sich so oft schon in greifbare Männerfiguren (greifbar klingt komisch – vielleicht wahllos verliebt?) aus ihrem Umfeld verliebt hat. Meistens könnten diese vom Alter her Väter für sie sein. Bonmot stellt den Kontakt zwischen Matilda und ihrer Großmutter wieder her. Was genau ihn dazu motiviert, wird mir nicht ganz klar. Die Großmutter erweist sich als gar nicht so senil und übergibt Matilda ein Kästchen mit Briefen, welche die Identität der zweiten Erzählstimme klären. Die Lösung dieses Rätsels kommt nicht vollkommen überraschend, dennoch hat mir dieses kleine Verwirrspiel sehr gut gefallen.
Doch der Roman geht noch weiter. Bonmot nimmt Matilda mit auf einen Roadtrip ins Ausland. Matilda ist überglücklich und sieht sich zusammen mit dem älteren Mann als durchbrennendes Liebespaar. Doch nach einer Weile gesteht Bonmot ihr, dass er Matildas Vater dafür bezahlt hat, Matilda mitzunehmen. Er leiht sie sozusagen aus, gegen Geld. An dieser Stelle geschieht in der Geschichte eine Wendung, die ich immer noch nicht verstanden habe: Bonmot will das Geld, das er Matildas Vater gegeben hat, wieder einspielen, indem er Matilda zur Prostitution zwingt. Das junge Mädchen lässt mehrmals Sex mit älteren Männern, natürlich gegen Bezahlung, über sich ergehen und redet sich dies anfangs schön. Am Ende schickt Bonmot Matilda zurück zu ihrem Vater und verschwindet emotionslos aus ihrem Leben. Zurück bleibt ein verstörtes junges Mädchen, das seiner Kindheit und Jugend beraubt wurde und das nun die ihr auferlegte Rolle der Lolita annimmt.
Sonja Harter spricht in ihrem Romandebüt Weißblende gleich mehrere gesellschaftliche Probleme an. Im Mittelpunkt der Erzählung steht das Thema des Kindesmissbrauchs, sei es in Hinsicht auf Matilda oder ihre gefolterte Mitschülerin. Hinzu kommt die Problematik der emotionalen Vernachlässigung von Kindern, wie es bei Matilda und ihrem Vater der Fall zu sein scheint. Als eine der Folgen aus diesem Verhältnis scheint bei Matilda, wenn man sich ihr Verhalten gegenüber Männern anschaut, ein Vaterkomplex zu entstehen. Darüber hinaus wird durch die eingeschobene Erzählstimme der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen thematisiert. Für einen Roman sind das meines Erachtens schon ganz schön viele, sehr relevante Themen. Leider versucht die Autorin noch weitere Probleme einzuarbeiten, wie zum Beispiel die Geflüchtetenthematik, der sie einen kurzen Absatz widmet. Ich finde es löblich und wichtig, gesellschaftskritische Punkte in einem Roman anzusprechen, allerdings ist Harter hier ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Der Roman wirkt für mich überladen.
Hinzu kommt, dass ich auch Schwierigkeiten mit der stilistischen Ausarbeitung des Textes hatte. Sonja Harter ist von Hause aus Lyrikerin und das merkt man Weißblende unheimlich an. Ich hatte teilweise das Gefühl, ein zweihundert Seiten langes Gedicht zu lesen. Harters Sprache ist sehr rhythmisch und passt gut zu den Beschreibungen einer Pubertierenden, die in der Tristesse aufwächst. Wie das Auf und Ab der jugendlichen Gefühle gerät auch die flüssige Sprache immer wieder ins Stocken. Trotzdem wirkte die sprachliche Ausarbeitung der Geschichte streckenweise sehr ermüdend auf mich. Ich finde die Sprache oft zu überladen von Metaphern und Bildern. Der Text wird dadurch so dicht, dass die Handlung bei der Lektüre neben der Entschlüsselung sprachlicher Bilder in den Hintergrund rückt. Was in der Lyrik nötig ist – auf engem Raum eindringliche sprachliche Bilder zu schaffen – wirkt im Roman deplatziert.
Die Mauer, die Vater aus den Versatzstücken seines Desinteresses aufbaut, duldet keinen Blick in die Gegenrichtung. Die Frau, der Schatten, ist da, bleibt da, wird nicht in Frage gestellt oder auch nur in sanftes Licht getaucht. Gleich einem verbotenen Garten, der Kindern zu betreten nicht erlaubt ist, schützt er diese neue Liebe, falls es eine ist, und wartet geduldig, bis der Alltag mein Erschrecken über die neuen Verhältnisse verdünnt, als wäre es nur eine Frage der Konsistenz.
Darüber hinaus fand ich die Figurengestaltung in Weißblende nicht ganz stimmig. Vor allem Matildas Vater kam mir an einigen Stellen unglaubwürdig vor. Ich habe ihn im Großteil des Romans als eher abweisend und kalt erlebt, als jemanden, der seine Gefühle wegsperrt. Zudem hatte ich den Eindruck, er würde nicht oft das Haus verlassen außer zum Arbeiten. Als Matilda von ihrem Roadtrip zurückkehrt, hat ihr Vater allerdings plötzlich eine neue Freundin und ist überglücklich mit ihr. Wo und wie hat er die denn kennengelernt? Und wie kann solch ein wortkarger Mann eine Frau so sehr von sich überzeugen, dass sie sofort zu ihm zieht? Mir kam das etwas an den Haaren herbeigezogen vor.
Nichtsdestotrotz: Weißblende ist ein Romandebüt, das viele gesellschaftlich bedeutende Themen in sich vereint und durch eine unglaublich dichte Sprache auffällt. Vollkommen überzeugen konnte mich Sonja Harters Debüt aber leider nicht. Es wirkt auf mich ein wenig überambitioniert. Ein bisschen weniger von allem und der Plot wäre definitiv noch eindringlicher.
Eine weitere Besprechung findet ihr u. a. auf KulturErnten und novellieren.
Sonja Harter
Weißblende
°luftschacht
ISBN: 978-3-902844-98-9
erschienen im September 2016
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Hallo Juliane,
dadurch, dass mir das Wissen um die lyrische Vorgeschichte der Autorin fehlte, habe ich das rhythmische des Romans als wohltuend gegenüber den harten Themen, die es anspricht empfunden. Den Knick in der Geschichte, als Bonmot seine „Schulden“ einfordert und Matilda fallen lässt, habe ich genauso wenig verstanden.
Hier meine komplette Rezension, zusammen mit Blauschmuck: https://lesenmachtgluecklich.wordpress.com/2016/11/25/das-debuet-2016-blau-plus-weiss-ergeben-gewalt-eine-doppelbesprechung/
Lieber Marc,
vielen Dank für deinen Kommentar. Deine Empfindung bezüglich der Sprache in „Weißblende“ kann ich nachvollziehen. Mir war es nur irgendwann zu dicht, zu überladen von sprachlichen Bildern. Danke für den Link zu deiner Doppelrezension. Ich finde den Ansatz, die beiden Bücher miteinander zu vergleichen sehr interessant und bin beim Lesen auch auf einige Parallelen gestoßen.
Liebe Grüße
Juliane