Ahnenforschung unter dem Hakenkreuz: In Philip Krömers Debütroman Ymir oder: Aus der Hirnschale der Himmel (Homunculus Verlag) steigt eine kleine Gruppe hinab ins tiefste Island, um die mythischen Urarier der NS-Ideologie zu finden. Klingt verrückt, klingt interessant! Der liebevoll gestaltete Einband lädt auch gleich zum Lesen ein.
Darüber hinaus steht Ymir auf der Shortlist für den Bloggerpreis „Das Debüt 2016“. Ich (Juliane) als Jurorin habe Krömers Debüt ebenfalls gelesen und gebe nun hier in einer Art Rezensionsnotiz meinen Senf zu Stefans Ansichten dazu. Falls also meine Meinung von Stefans abweicht, ist dies in orangefarbenen Buchstaben an jeweiliger Stelle gekennzeichnet.
Nordische Götter, Runen, okkulte Symbole – die NS-Ideologie ist ohne Okkultismus aus heutiger Sicht kaum denkbar. Gezielt wurden Religionen und Kulte vermengt, um eine für alle „Arier“ zugängliche neue Religion zu erfinden, die die „Herrenrasse“ komplett gleichschalten sollte. Kern der Ariosophie, so der Name dieser Ideologie, ist die Vorstellung absoluter Reinheit, die Stärke und Überlegenheit bedeutet. Verunreinigung ist Schwäche. Um noch schneller zu absoluter völkischer Reinheit zurückzukehren, suchten Nazis auf der ganzen Welt nach sogenannten „Urariern“ – Überlebenden oder Überresten ihrer noch nicht „verunreinigten“ Urahnen.
In Ymir schildert der Erzähler, was er auf einer Nazi-Expedition nach Island Anfang der 1940er-Jahre erlebte. Auch hier war das zunächst unbekannte Ziel am Ende klar: die Suche nach den „Urariern“. Zusammen mit zwei anderen Männern wird er auf die Insel im hohen Norden geflogen, wo die Gruppe in einem NS-Bunker empfangen und zu ihrem Studienobjekt geführt wird: einem Loch ohne Boden.
Die Gruppe ist taktisch zusammengesetzt: ein SS-Mann, vom Erzähler „KleinHeinrich“ genannt, „weil direkt dem großen Heinrich [Himmler] unterstellt“ , für die Sicherheit und Tatkraft der Gruppe zuständig. Ein NS-Wissenschaftler, mit extravagantem Äußeren und verschiedensten (Pseudo-)Qualifikationen von Geologie über Anthroposophie bis Ahnenkunde, wegen seines Dandytums „VonUndZu“ genannt. Und schließlich der Erzähler, Mitläufer, naiver Schriftsteller und Beobachter, abgestellt um zu berichten, am besten natürlich in pathetischem Ton des Erfolgs.
Es handelt sich dann doch nicht wirklich um ein Loch ohne Boden, auch wenn die eigenwillige Art des Erzählers dies immer wieder betont. So begeben sich die drei ins Innere Islands, einer im Nationalsozialismus mythologisch höchst aufgeladenen Insel. Die Suche nach dem „UrArier“, wie er hier genannt wird, gestaltet sich schwierig, zahlreiche Gefahren lauern in der „UnSchwärze“. Was genau sie dort erleben, soll aber hier nicht zur Sprache kommen – ich hülle den Mantel des UnSchweigens darüber, wie der Erzähler es vielleicht ausdrücken würde.
Bei Ymir handelt es sich nämlich im Prinzip um einen Abenteuerroman. Eingebettet ist die Geschichte in eine minimale Rahmenhandlung, in der der Erzähler einen unerwarteten Gast zu sich hereinbittet, um ihm oder ihr auch gleich seine Geschichte zu erzählen. Diese wird gradlinig vom Anfang bis zum Ende berichtet, von ein paar kleinen Abschweifungen mal abgesehen. Interessant ist, dass die Reise metaphorisch in den Körper Ymirs, eines Riesen aus der nordischen Mythologie, versetzt wird. Jedes Kapitel ist eine Station in Ymirs Körper. Die Reise geht von der Hirnschale durch den Mund in den Magen, durch den Darm bis zum Anus und wieder zurück. Auf schön gestalteten Doppelseiten werden die Stationen in zeittypischen Stichen illustriert.
Auch sonst wird viel mit Illustrationen gearbeitet: Alle paar Seiten taucht eine Abbildung auf. Viele zeigen orthopädische und medizinische Hilfsmittel wie Verbände und Orthesen, später kommen noch Turnübungen und Anordnungen von Tierversuchen hinzu. Auf diese in den Text eingearbeiteten Abbildungen wird jedoch nie direkt Bezug genommen, sie haben eher eine assoziative Bindung zum Text. Schön und irgendwie stimmungsvoll sind sie aber jedenfalls.
Die Sprache des Erzähler ist sehr locker. Die Mündlichkeit seines Vortrags wird durch eine Menge Einwürfe, Kommentare, Abschweifungen, Ansprachen und Füllwörter betont. Sein Ton ist flapsig, was sich sowohl in den schon erwähnten Spitznamen der Begleiter und aller anderen Personen im Roman zeigt als auch in der Art zu beschreiben:
Spuren unserer Vorfahren – im Gestein – in schwer zugänglichem Gelände? Sie merken: die personelle Zusammenstellung wirft fragen auf. Allein die Mission ist eine geheime (hochgeheime). Und ihr Zweck – unsere Bestimmung – erst vor Ort zu erfahren.
Krömer arbeitet mit einer Vielzahl von Einfügungen in die Satzstruktur, er klammert, fügt Gedankenstriche und Relativsätze ein, unterbricht Sätze in der Mitte mit Punkten, um den einzelnen Teilsätzen mehr Gewicht zu verleihen. Soll das alles die mündliche Erzählweise und lockere Gesprächigkeit des Erzählers unterstreichen, wird jedoch leider vor allem eines erreicht: Der Erzählfluss stockt immer wieder, tritt vor das Erzählte und scheint ihm fast die Schau zu stehlen.
Hier muss ich Stefan widersprechen. Bei mir hat dieser flapsig-ironische Erzählton genau das Gegenteil bewirkt. Er hat mich bei der Stange gehalten, mich amüsiert und mir das Genre des Abenteuerromans wieder schmackhaft gemacht.
Meiner Meinung nach ist genau dies das Grundproblem von Ymir: Die Geschichte ist zu schwach, zu dünn für einen 200-Seiten-Roman, weshalb aufgefüllt wird. Aufgefüllt mit Illustrationen, mit Zusatzinformationen, die für den Roman unerheblich sind. Natürlich, die Zusatzinformationen sind nicht gänzlich uninteressant. So ist „VonUndZu“ beispielsweise Wagnerianer, Esoteriker, Anhänger der Hohlwelt-Theorie, Alchemist, eventuell verkappter Homosexueller. Alles Attribute, die einen gerade aus der heutigen Sicht weitverbreiteten, „weichen“ Typus des Nationalsozialisten beschreiben, denen der „harte“ SS-Mann „KleinHeinrich“ gegenübergestellt wird. Dass der Erzähler sich selbst als offen Homosexueller und „braver Bürger“ beschreibt, der mit Politik eigentlich nichts zu tun hat, sondern nur seine Pflicht erfüllt, macht dann das Maß der NS-Stereotype endgültig voll. Eine gute Charakterisierung sieht für mich anders aus.
Ich habe das ganz anders gesehen. Für mich fügt sich diese Aufnahme von Stereotypen ganz einwandfrei in das Konzept des gesamten Buches ein. Der Text stellt so heraus, wie lächerlich diese in der NS-Zeit so oft vorgefundenen „braven Bürger“ und Mitläufer*innen sind. Der Roman entlarvt sie auf diese Weise als Witzfiguren.
Stark und fesselnd ist der Roman in seinen erzählerischen Passagen, also dort, wo sich der Plot abspielt und konzentriert wiedergegeben wird. Leider sind diese rar gesät und kurz, da der Erzähler schnell abdriftet. Er reflektiert dies auch an einer Stelle, und mir scheint die Ausführung symptomatisch für Ymir:
Nun baut sich in meiner Geschichte merkliche Spannung auf, welche von einem fragilen Gerüst aus Neugierde getragen wird. All die offenen Fragen und ungeklärten Phänomene! […] Dieses fragile Gerüst darf allerdings nicht mit der Erzählung unseres endlos währenden Abstiegs belastet werden (hinab hinab hinab). Da gibt es adäquatere Stoffe. Hören Sie!
Darauf folgt dann eine Fantasie, die die Explosion der Hindenburg mit nordischer Mythologie in absurden und lautmalerischen Elementen zusammenzubringen sucht. In anderen Zusammenhängen würde man dies Seemannsgarn nennen. Leider wirken diese Fantasien oder phantastischen Einsprengsel meist zu bemüht, sind mehr an Namedropping als an Inhalten und Zusammenhängen interessiert. Das Attribut „adäquat“ ist hier wohl Ansichtssache. Dass der Erzähler sich am Ende des Romans mehr oder weniger deutlich als unzuverlässig zu erkennen gibt, entlockt da nur noch ein müdes Lächeln.
Hier muss ich Stefan teilweise Recht geben. Abschweifungen wie jene zur Explosion der Hindenburg innerhalb der Geschichte haben mich im Vergleich zum vorantreibenden Plot etwas gelangweilt. Solche Stellen habe ich oftmals ein bisschen ungenauer gelesen, um schnellstmöglich zum eigentlichen Abenteuerplot zurückzukehren. Aber dass der Erzähler am Ende als unzuverlässig enttarnt wird, finde ich einen genialen Kniff. Das wirft noch einmal ganz neue Fragen an den gelesenen Text auf und zeigt, dass man scheinbar braven Bürgern aus der NS-Zeit nicht allzu sehr vertrauen sollte.
Was bleibt am Ende? Im Kern ist Ymir ein unterhaltsamer Abenteuerroman in einem interessanten Setting, aus dem viel herausgeholt werden kann. Leider ist er für mich zu überlastet und unkonzentriert, er wirkt unausgereift. Das Spiel mit Nazi-Jargon, nordischer Mythologie, Okkultismus und dem assoziativen Humor des Erzählers führt für mich zu oft nirgendwo hin, schweift ziellos ab.
Mein Fazit fällt definitiv positiver aus als Stefans. Ich hatte bei der Lektüre von Ymir unheimlichen Spaß und musste oft schmunzeln bei so viel gut platzierter Ironie. Krömer legt hier ein starkes Debüt vor, das mir zum einen das Genre des Abenteuerromans wieder näher bringt und dabei durch eine eindringliche Erzählerstimme glänzt. Zudem ist die Gestaltung des Buches wirklich herausragend.
Zu meinem negativen Urteil trägt aber auch bei, dass mir der altbackene Humor des Erzählers und seine anbiedernde Sprache sehr unsympathisch sind, wie die ganze Figur des Erzählers überhaupt. Das kann den Zugang zu einem Roman komplett verstellen, das ist mir klar. Vielleicht geht es euch da anders? Wie hat euch der Roman gefallen?
Philip Krömer
Ymir
oder: Aus der Hirnschale der Himmel
Homunculus Verlag
ISBN: 978-3-946120-18-6
erschienen am 11. März 2016