Als mir kürzlich der Lesestoff ausging, stand ich vor einem Tauschregal auf der Arbeit und haderte lange mit den vielen Büchern. Bis mir ein toller Titel auffiel: Weshalb die Herren Seesterne tragen von Anna Weidenholzer (Matthes & Seitz). Klasse Titel, genial einfache Gestaltung, Longlist-Platzierung 2016 – da war die Entscheidung schnell gefallen.
Die Geschichte beginnt mit der Hauptfigur Karl Hellmann, der das Hotel Post verlässt, in dem er – wie die Leser*innen später erfahren – einige Wochen verbracht hat. Ein Forschungsauftrag hat den Pensionär in das namenlose Kaff irgendwo in Österreich geführt. Ein selbstgewählter Forschungsauftrag, wohlgemerkt: Karl möchte herausfinden, wie das Leben der Bevölkerung ist, was sie tun, was sie dabei empfinden, und ob sie glücklich sind. Er hat den Fragebogen kopiert, mit dem in Buthan das „Bruttonationalglück“ gemessen wird, und hier und da an die österreichischen Gegebenheiten angepasst.
Strenge Regeln hat er sich auferlegt, um seine Forschung objektiv und nachvollziehbar zu halten. Er sucht seine Studienobjekte mit Hilfe des Telefonbuchs aus, der Finger fällt auf einen Eintrag, die Person ist ausgewählt. Auch den Ort hat er so ausgewählt, nur mit einem Autoatlas anstelle des Telefonbuchs. Schnell muss er jedoch erfahren, dass seine wissenschaftliche Methode auch ihre Tücken hat. Nicht jede*r hat Lust, einem Fremden vom eigenen Leben zu erzählen. Besonders nicht, wenn etwa dreihundert Fragen zu beantworten sind.
So verstrickt sich Karl schnell. Die Wirtin, deren einziger Gast er vor Anfang der Saison zunächst ist, fasst schnell ein gewisses Vertrauen zu ihm. Ihre Einsamkeit lässt sie leicht ins Reden kommen, in dem kleinen Ort kennt jede jeden, zu allen Bewohner*innen hat sie etwas zu erzählen. Dass Karl all dies nicht hören will, es ihm seine Höflichkeit aber verbietet, sie allzu energisch zu unterbrechen, zermürbt ihn. Genauso sein erster Proband, M1 (Männlich 1). Die beiden sind sich auf Anhieb sympathisch, doch hat es sich Karl verboten, zu engen Kontakt zu seinen Interviewpartner*innen aufzubauen. Immer öfter verstößt er gegen seine eigenen Regeln. Kein Wunder, läuft man sich in dem kleinen Ort doch ständig über den Weg.
Das ist aber nicht das einzige Problem bei Karls Unterfangen. Denn mit der Zeit stellt sich heraus, dass er über Nacht aufgebrochen ist, ohne mit seiner Frau Margit darüber zu sprechen. So telefoniert er anfangs immer wieder beschwichtigend mit ihr, versucht, die Wogen, die sein plötzliches Verschwinden geschlagen hat, mit allen Mitteln zu glätten. Plante er anfangs noch, für zwei Wochen wegzubleiben, werden es dann aber mehr und mehr, bis Margit schließlich seine Anrufe nicht mehr beantwortet.
Dabei scheint Margit stets nah bei ihm zu sein. Unablässig führt Karl innere Dialoge mit ihr, stellt sich vor, was sie zu seinen Erlebnissen sagen würde, erinnert sich an ähnliche Situationen. Obwohl Margit nie ein Wort in direkter Rede spricht und auch nie im Roman auftritt, schwebt sie durchweg als Karls Weggefährtin über dem Geschehen. Dass der realen Margit dies kaum imponiert, muss Karl am Ende des Romans erfahren.
Weshalb die Herren Seesterne tragen ist ein Roman, der aus der Reihe fällt. Waren es der Titel und die Gestaltung, die mich das Buch von Anna Weidenholzer haben einstecken lassen, so ist es die Erzählweise, die mir im Gedächtnis bleiben wird – neben der tollen, verschrobenen Figur des Karl natürlich, der den Leser*innen immer mehr ans Herz wächst.
Dies liegt daran, dass Anna Weidenholzer die Point-of-view-Technik benutzt, um Karls Geschichte zu erzählen. Die Erzählstimme ist prinzipiell eine personale, die jedoch immer wieder tief in Karls Gedankenwelt eintaucht, bis hin zum Bewusstseinsstrom in ihm versinkt und so die Leser*innen ganz nah an seinem Seelenleben teilhaben lässt. Dies bringt uns Karl sehr nah, seine Hoffnungen, seine Ängste, aber auch seine zunehmende Flucht in eine innere Zweisamkeit sind zum Greifen nah.
Denn obwohl sein wissenschaftliches Vorhaben ganz offensichtlich scheitert, kann er nicht loslassen. Vielleicht will er auch nicht loslassen. Immer mehr drängt sich der Verdacht auf, dass seine Forschungsreise nicht nur eine Eingebung, sondern auch und vielmehr eine Flucht vor dem eigenen Leben ist, dem Alltag, den Regeln, den sich immer mehr wiederholenden Konversationen mit Margit, die er einst so liebte und dies vielleicht auch immer noch tut. So imaginiert er sich in seinem Exil in einen engen Austausch mit ihr, macht sie zu der Kumpanin, die er seit langem in ihr vermisst.
Irgendwo müssen wir beginnen, antwortet Karl. Wir, denkt er und schaut zur Decke, er bemerkt, dass er die Arme verschränkt hat. Achte auf deine Körperzeichen, hört er Margit sagen. Karl legt unauffällig die Hände auf den Tisch und dreht die Handflächen nach oben. Keine Angst, hört er Margit flüstern, so durchschaut Hirsch dich nicht.
Hirsch, Rudolf Hirsch, der Anfang vom Ende. Ein neuer Gast, der mit seiner Frau zwei Wochen nach Karl im Hotel Post einkehrt und sich Karl wohl mehr aus Langeweile denn aus Interesse aufdrängt. Hirsch stellt Fragen, denen Karl nicht gewachsen ist, die sein Unternehmen schnell lächerlich erscheinen lassen könnten, was Karl am Ende wieder in die Flucht treibt.
Anna Weidenholzer beschreibt in Weshalb die Herren Seesterne tragen Karls Innenleben mit viel Einfühlsamkeit und großer sprachlicher Sicherheit. Nur gelegentlich ist für mich der Erzählfluss zu weit in Karls Gedanken versunken und hat mich ratlos zurückgelassen. Aber diese Stellen sind selten und absolut verschmerzbar.
Und noch ein Aspekt hat mir sehr gut gefallen: Parallel zu Karls Innenleben blättert sich auch das Innenleben der Kleinstadt immer weiter auf. Die vielen kleinen Streite und großen Fehden, die alten Gräben, die quer durch die Einwohnerschaft verlaufen und immer wieder plötzlich vor Karl aufbrechen, machen den Roman auch zu einem liebevollen Porträt des kleinstädtischen Lebens. Dass ich das aus meiner Kindheit und Jugend nur allzu gut kenne, hat den Roman von Anna Weidenholzer für mich nochmal interessanter und lesenswerter gemacht. Auch, weil die Beschreibung des kleinstädtischen Lebens ganz ohne einen Blick von oben herab auskommt, sondern die Charaktere in ihrer Verschrobenheit liebevoll porträtiert.
Hier könnt ihr lesen, wie andere Blogger*innen den Roman fanden:
Literaturen | literaturleuchtet | KulturErnten
Habt ihr ihn schon gelesen, und wenn ja, wie hat er euch gefallen?
Anna Weidenholzer
Weshalb die Herren Seesterne tragen
Matthes & Seitz Berlin
ISBN 978-3-95757-323-0
erschienen 2016