Beim Lesen der Schweine-Naturkunde von Thomas Macho (Matthes & Seitz) kam ich mir immer wieder vor, als müsste ein Bild von mir mit dem Buch in der Hand gemacht werden. Darauf die Headline: „Meine erste Naturkunde“. So wie (allerdings mit einer Banane) „Zonen-Gabi“, Angela Merkel und (allerdings ohne Banane) Guido Westerwelle in der Titanic. Eine prominente Reihe, in die ich mich nur zu gern stelle!
Nun also endlich: Meine erste Naturkunde. Natürlich hatte ich schon oft Bücher der Reihe in der Hand, habe sie verstohlen im Buchhandel beäugt und dann meist doch nicht gekauft. Am Indiebookday war das Thema dann aber einfach reif und ich habe zugegriffen.
Die Auswahl war groß, meine Wahl fiel aber zielsicher auf die Schweine. Zum einen mag ich die Tiere einfach sehr gern. Sie sind intelligent, verspielt und hübsch anzuschauen. Zum anderen war mir der Autor, Thomas Macho, schon ein Begriff, sodass ich mir auch vom Text viel versprechen konnte. Und ich darf gleich sagen: Es hat sich gelohnt.
Ich weiß gar nicht, wie lange ich das Buch einfach nur in der Hand hielt. Es drehte, kippte, darin blätterte, bis ich die erste Zeile las. Zu sehr hat mich die durchdachte, mit viel Eleganz und einem guten Händchen bei Auswahl und Verarbeitung der Materialien umgesetzte Gestaltung beeindruckt. Jeder Band (zumindest der kleinen Naturkunden) kommt mit zwei Farbakzenten aus, die sich bis in den Faden der Heftung durchziehen. Einfach klasse!
Auch die vielen, sehr schön ausgewählten Abbildungen von Schweinen quer durch die gesamte Kunstgeschichte laden zum ziellosen Blättern und Schmökern ein. Stiche, Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Skulpturen, Filmstills – alles ist da, vom Ägypten der Pharaonen über das europäische Mittelalter bis in die Romantik, von der Jahrhundertwende über das Hollywood des frühen 20. Jahrhunderts bis zu eigens für den Band angefertigten Zeichnungen.
Dieser schnelle Überschlag gibt gleichzeitig die Marschrichtung des Portraits der Schweine von Thomas Macho vor. Als einer der profiliertesten Kulturwissenschaftler in Deutschland wundert es kaum, dass wir eine Kulturgeschichte des Schweins präsentiert bekommen. Das Verhältnis des Menschen zu den schon früh domestizierten Nutztieren füllt den Text komplett aus. Naturgeschichte oder genauere biologische Einzelheiten bleiben außen vor.
Das Leitthema des Texts ist dabei das ambivalente Verhältnis von Mensch zu Schwein: Auf der einen Seite sind die beiden sich so ähnlich wie kaum zwei andere Tierarten auf der Erde. Affen und Menschen teilen zwar eine beeindruckende äußere Ähnlichkeit. Genetisch sind sich Mensch und Schwein allerdings bedeutend näher. Kein Wunder, dass ca. 80.000 Schweine für Arznei-, Kosmetik- und andere Produkttests jedes Jahr ihr Leben lassen müssen. Auch gehören sie zu den intelligentesten und in ihrem Sozialverhalten am weitesten entwickelten Tieren.
Auf der anderen Seite jedoch sind Schweine schon seit Anbeginn vieler menschlicher Kulturen Symbole von Unreinheit und Sittenlosigkeit. Überlegt mal, wie viele Sprichwörter es gibt, die mit Schweinen zu tun haben! Und nun, wie viele davon das Schwein in einem guten Licht dastehen lassen. Irgendeins? Es gibt unglaublich viele Sprichwörter zu Schweinen, und auch wenn viele aus Verballhornungen entstanden sind, kommen sie uns heute doch immer noch irgendwie plausibel vor. Kulturell stechen vor allem die Speisetabus in Judentum und Islam ins Auge, die zumeist auch von anderen Verboten begleitet werden.
Die Betrachtung setzt sich fort bis in die Gegenwart, und damit zwangsläufig zum Schicksal aller Nutztiere, aber besonders des Schweins in der industrialisierten Moderne: der Massentierhaltung.
Wollten wir die Grundtendenz des Modernisierungsprozesses in gebotener Knappheit erfassen, so müssten wir sie als fortschreitende Eliminierung der Haustiere durch Maschinen beschreiben. Diese gesellschaftliche Verdrängung reduzierte die Tiere schlagartig auf eine einzige Funktion, die noch kein Wild- oder Haustier jemals zuvor in vergleichbarer Größenordnung erfüllen musste: auf die Funktion des Massenschlachtviehs. […] Schlachttiere […] sind keine Haustiere mehr. Sie werden nicht genutzt, sondern unter grausem Bedingungen verbraucht, sie wohnen nicht in Häusern, werden nicht wahrgenommen oder benannt.
Natürlich gibt es Ausnahmen, Hausschweine gibt es nach wie vor – gegen die Masse der allein zur Schlachtung gehaltenen Tiere sind diese jedoch verschwindend gering. Etwa 60 Millionen Schweine werden jedes Jahr geschlachtet – allein in Deutschland. Die Ambivalenz, die dieses Verhalten unseren nächsten Verwandten gegenüber aufzeigt, stellt Macho überzeugend dar.
Dass er sich dabei jedweder Schlussfolgerungen enthält, ist zwar auf den ersten Blick etwas enttäuschend, am Ende aber verständlich. Denn es geht ja um eine Naturkunde der Schweine, nicht um eine Geschichte der menschlichen Doppelmoral – auch wenn sie sich hier sehr schön abzeichnet. Moralische, ökologische wie auch gesundheitliche Fragen betreffen allein die Menschen, und die bilden hier eben nur den Rahmen der Erzählung.
Einen echten Kritikpunkt habe ich dann aber doch, auch wenn er nicht zu sehr ins Gewicht fällt. Macho benutzt immer wieder sehr lange, teilweise über mehrere Seiten reichende Zitate, um Sachverhalte darzustellen. Dies ist zwar formal in Ordnung, für einen Essay aber in diesem Ausmaß meiner Meinung nach nicht angemessen. Es wäre ein leichtes gewesen, die Inhalte der langen Zitate zumindest teilweise zu paraphrasieren, um den Textfluss zu verbessern. Kein großer Kritikpunkt, wie gesagt – aber erwähnt soll er doch sein.
Was bleibt also von meiner ersten Banane alias Naturkunde? Ein erstklassiger Eindruck mit nur ganz leichten Abstrichen. Herstellerisch und gestalterisch durchweg ein Genuss, und auch der Essay von Thomas Macho weiß zu überzeugen.
Schweine
Ein Portrait von Thomas Macho
Naturkunden No. 17
Matthes & Seitz Berlin
ISBN 978-3-95757-099-4
Erschienen 2015