Das Floß der Medusa (Zsolnay) ist ein moderner Abenteuer- genauso wie ein historischer Roman, der laut Ankündigung eine bedeutende Parallele zur Fluchtsituation der Gegenwart zeichnen soll. Ob die Handlung im 19. Jahrhundert tatsächlich einen frischen Blick auf die Gegenwart eröffnet?
Zuletzt habe ich mich selbst als Leser von Liebesromanen neu entdeckt, dann kamen verschiedenste erste Male: Mit dem Portrait Schweine habe ich meine erste Naturkunde gelesen und war begeistert. Der Tag, an dem ein Mann vom Berg kam war dann mein erster türkischer Roman – auch ein guter Einstieg. Jetzt Franzobel mit Das Floß der Medusa. Kaum zu glauben, hat der österreichische Autor doch in den letzten 25 Jahren unzählige Veröffentlichungen in allen irgendwie denkbaren literarischen Genres vorgelegt. Aber besser spät als nie.
Der Roman erzählt die Geschichte der Fregatte Medusa, die am 17. Juni 1816 vom französischen Hafen Rochefort nach Saint-Louis aufbricht, die wichtigste Hafenstadt des Senegal, oder Französisch-Westafrikas, wie die damalige französische Kolonie zu der Zeit hieß. Verschiedenste Menschen sind mit verschiedensten Träumen und Hoffnungen an Bord. Flucht vor Verfolgung, Armut, Sehnsucht nach einem besseren Leben sind nur einige der vielen Motive, die die Menschen auf die Medusa treiben. Auch eine Armee-Kompanie, der zukünftige Gouverneur des Senegal und natürlich die gesamte Besatzung sind an Bord.
Die Fahrt geht zunächst gut, auch wenn immer wieder schlechte Omen auftauchen. Der von einem Reizdarm geplagte und dazu chronisch rückgratlose Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys gibt jedoch irgendwann das Kommando praktisch an seinen angeblichen Jugendfreund Richeford ab. Ein Hochstapler, der sich zum Hafenmeister in Saint-Louis ernennen ließ und diversen Rechtsstreiten in Frankreich so gut aus dem Weg gehen kann. Vom Kommandieren eines großen Segelschiffs hat er jedoch herzlich wenig Ahnung, dafür jedoch umso mehr Selbstvertrauen.
Er steuert das Schiff nach Gutdünken Richtung Süden, gegen den beständigen Widerstand der Offiziere. Auch eine sichtbare Veränderung der Wasserfarbe kann ihn nicht vom Kurs abbringen. So kommt es nicht sehr überraschend, dass die Medusa am 2. Juli 1816 um 15 Uhr auf Grund läuft. Mit Rettungsbooten sieht es nicht so richtig gut aus, gerade mal die Hälfte der Passagiere kann Platz finden. Schnell wird der Plan gefasst, ein Floß zu bauen, das die Übrigen aufnehmen soll: Das Floß der Medusa.
Soll das Floß mit 147 Menschen anfangs noch hinter den größeren Rettungsbooten hergezogen und so gesichert werden, stellt sich dies schnell als unmöglich heraus und das Floß wird bei der ersten Komplikation gekappt. Manövrierunfähig treibt das Floß auf dem Ozean, um nach vier Tagen gefunden, die Menschen gerettet zu werden. Doch sind es dann nur noch 15 – was ist in nur vier Tagen auf hoher See passiert?
Das Floß der Medusa schildert diese vier Tage eindringlich. Wahnsinn, Neid, Mordlust, Verzweiflung und Kannibalismus greifen schneller um sich, als sich irgendeiner der Passagiere anfangs hätte vorstellen können. Eine beinahe unglaubliche Extremsituation:
Hunger, dachte Savigny. H U N G E R ! Er überlegte, wie es wohl wäre, aus der Leiche, mit der Gaines noch immer tanzte, ein Stück herauszuschneiden, um es sich in den Mund zu schieben. Es war ein bleicher, schlaffer Körper mit blassen Lippen und verdrehten Augen. Hübsch, schon das ist ein Vergehen. Doch davon essen? Bereits beim bloßen Gedanken daran spürte er ein Würgen, verkrampfte sich seine Speiseröhre bis hinunter in den Magen. Das wäre doch grauslicher als die Pickel von Clairet oder die Ausscheidung von Coste.
[gefettete Sätze im Buch kursiv]
In diesem Teil ist Franzobels Roman richtig stark. Er macht die Zweifel, Abwägungen und Versuchungen, die sich zumindest bei den gebildeteren oder noch wenig verrohten Passagieren wie dem hier dargestellten Schiffsarzt Savigny zeigen, greifbar und lässt mit den Protagonisten mitfühlen. Wo ist die Grenze zwischen dem, was die Kultur uns gelehrt hat, und dem, wozu der Hunger uns zwingt? Heiligt der Zweck die Mittel? Und wenn ja, ab wann? Wie schlecht muss es mir gehen, bevor ich einen anderen Menschen essen darf, um selbst nicht zu verhungern?
Leider handelt trotz des anderes vermuten lassenden Titels nur ein relativ kleiner Teil des Romans vom Floß und dessen Schicksal. Der 600 Seiten starke Roman arbeitet sich vor allem an der Geschichte ab, die dazu führt, dass das Floß gebaut und dann auch eingesetzt wird. Das ist wichtig und interessant, in seinem Detailreichtum und seiner Ausführlichkeit aber oft auch ermüdend. Müssen wir wirklich die Lebensläufe so vieler Personen im Detail kennenlernen?
Franzobel bedient sich dabei in Das Floß der Medusa einer interessanten Erzählkonstruktion. Die Erzählinstanz ist in unserer Gegenwart verortet und erzählt die weit zurückliegende Geschichte der Medusa. Es soll Licht auf die lange vergessene Katastrophe geworfen werden, die vom französischen Marineministerium vertuscht wurde und dadurch immer wieder mystifiziert wurde:
Aber was sind das für Geschehnisse, die der Menschheit für alle Zeit verborgen bleiben sollte? […] In jedem Fall ist dieser „Vorfall“ etwas, das am französischen, ja, am europäischen Nationalstolz kratzt, weil er Abgründe des Menschen offenbart, zeigt, was mit dieser Spezies alles möglich ist. […] Gut, die Sache liegt mittlerweile mehr als 200 Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders, bei uns kommt sowas nicht vor. Doch ist das wirklich so?
Die Sprache ist in seinem leicht ironischen, durchaus kritischen Tonfall angenehm, regt wie im Zitat zum Nachdenken an oder sorgt mit seinen leichtfüßigen Schilderungen für ein Schmunzeln bei den Leser*innen. Das bringt frischen Wind in das etwas angestaubte Genre des historischen Romans. Der kritische Ansatz, und damit auch der gezielte Einsatz dieser Erzählkonstruktion insgesamt, beschränkt sich aber leider auf den Anfang und das Ende des Romans. Der Mittelteil wird durch ein personales Erzählen dominiert, das zum Schwadronieren neigt und auf Dauer ermüdet.
Hinzu kommen viele irritierende Details, die die Ermüdung am Floß der Medusa noch verstärken. So sind z.B. in den Erzählfluss immer wieder kursive Teile eingeflochten, die Gedanken von dargestellten Personen in einer Art Bewusstseinsstrom direkt darstellen. Dies verhakt sich jedoch immer wieder mit der personalen Erzählweise, die selbst oft in die Ich-Perspektive der Protagonisten wechselt oder deren Gedanken in indirekter Rede darstellt. Mal wird kursiviert, mal nicht – ich bin immer wieder über solche Stellen gestolpert.
Auch der Umgang mit zeitgenössischen rassistischen Begriffen ist sehr schlecht gelöst. Franzobel versucht, das Wort „Neger“ immer dann durch Anführungen abzuschwächen, wenn die Erzählinstanz es in Auseinandersetzung mit den Protagonisten des 19. Jahrhunderts benutzt. Verwenden die Personen es selbst, steht es ohne Anführungen. So die Theorie, die wohl akzeptabel wäre, wäre sie denn konsequent durchgesetzt. Aber schon bei einfachen Komposita scheitert das Ganze, steht der Begriff mal mit, mal ohne Anführungen auch in der Rede des Erzählers.
Und dann noch die über alle Maßen überzeichnete Darstellung des Soldaten Menachim Kimmelblatt, „der Jude mit dem roten Fez“. Ist die in vielen Fällen undifferenzierte Benutzung rassistischer Begriffe ärgerlich, haben sich mir hier wirklich die Nackenhaare hochgestellt:
Schmonzes. Erzähl mir kein Geschichtelach, du kleiner Chochmes. […] Ein Menachim Kimmelblatt ist nicht meschugge. […] Ist nicht koscher. Aber wehe, wenn du Kimmelblatt belügst, dann gibt es Zores und Mores.
Hier ist die ironische Erzählweise meiner Meinung nach weit über das Ziel hinausgeschossen. Sie hat eine vor Stereotypen nur so strotzende Karikatur geschaffen, die einen jiddisch geprägtes Sprechen auf platteste Weise darstellt und sinnlos mit jiddischen Begriffen um sich wirft.
Das Floß der Medusa von Franzobel ist ein Roman, der in seinen kritischen Teilen wichtige Fragen unserer Zeit aufwirft und sie mit den historischen Ereignissen der Medusa zu verknüpfen weiß. Fragen zur Integrität von Personen, zur Bedeutung der Kultur, zum postkolonialen Erbe werden aufgeworfen und mit der Katastrophe der Medusa in Beziehung gesetzt. Leider ist der Roman aber schlecht zwischen erzählenden und reflektierenden Teilen austariert und im Detail nicht gut gearbeitet. Dass diese Nachlässigkeiten bis hin zur unerträglichen Karikatur des Menachim Kimmelblatt gerade im schwierigem Fahrwasser potenziellen Rassismus’ zu verorten sind, ist überaus schade. Denn der Roman möchte ja unter anderem auch das rassistische Erbe des Kolonialismus thematisieren, scheitert aber im Detail selbst an den Hürden dieser Aufgabe. Dies hinterlässt bei mir einen sehr faden Nachgeschmack. Aber Franzobel hat definitiv eine zweite Chance verdient.
Das Floß der Medusa
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05816-3
Erschienen am 30.1.2017
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[…] Lustauflesen, Poesierausch und Zeilensprünge haben dieses Buch bereits besprochen. […]
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