Eine kleine Sensation: 2016 wird der bis dato unbekannte Roman Jack Engles Leben und Abenteuer von Walt Whitman (Manesse) entdeckt. Nun erscheint die deutsche Ausgabe mit einem kleinen Nachwort von Whitman-Kenner Wieland Freund. Was hat der Sensationsfund literarisch zu bieten?
Walt Whitman ist vor allem wegen seines ausufernden und nie wirklich abgeschlossenen Monumentalgedichtbands Leaves of Grass (dt. Grasblätter) in die amerikanische Literaturgeschichte eingegangen. Praktisch sein komplettes lyrisches Werk findet sich in diesem riesigen Zyklus. Irgendwann in meiner Beat-Generation-Phase, so mit Anfang 20 vielleicht, habe ich mir sogar mal eine englische Auswahl davon gekauft. Whitman hatte großen Einfluss vor allem auf Allen Ginsberg. Das merkt man den Gedichten deutlich an und konnte mich damals ein wenig bei der Stange halten. Inhaltlich ist aber zugegebenermaßen nicht viel hängengeblieben.
Von Whitmans Prosa hatte ich bisher nichts gelesen und auch nicht wirklich gewusst, dass es da überhaupt etwas gibt. Zahlreiche Erzählungen und einen Roman, Franklin Evans von 1842, gibt es dann aber doch, wenn auch literaturgeschichtlich kaum beachtet. Das Nachwort von Jack Engles Leben und Abenteuer macht hier einen guten Job und bietet einen kompakten und informativen Überblick über Whitmans Werk und Leben.
Auch die Umstände, unter denen Jack Engles Leben und Abenteuer entdeckt wurden, werden lebhaft beschrieben. So konnte der 1852 anonym als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Daily Dispatch erschienene Text erst 2016 durch eine pedantische Suche gefunden werden: In einem Notizbuch Whitmans fand sich der Titel eines unbekannten Romans und die Namen zahlreicher Figuren. Da der Daily Dispatch nie digitalisiert wurde, war kein direkter Weg dorthin möglich. Aber eine Anzeige in der komplett digitalisierten New York Times gab schließlich den entscheidenden Hinweis: Der fehlende Roman war gefunden.
Soviel zur Geschichte des Buchs. Hin zum Inhalt, denn immerhin wird Jack Engles Leben und Abenteuer als „Weltsensation zur rechten Zeit“ gepriesen, als der „literarische Jahrhundertfund“! Da können wir ja einiges erwarten.
Der Roman handelt natürlich von besagtem Jack Engle, der seine Lebensgeschichte erzählt. Nachdem er seine frühe Jugend als Straßenkind in New York verlebt, nimmt der fromme Krämer Ephraim Foster ihn bei sich auf und bietet ihm ein gutes Zuhause. Nach dem Abschluss der Schule nimmt sein Pflegevater ihn mit zum Anwalt Covert, wo er aufgenommen wird, um sich – ganz im Sinne des American Dream – hochzuarbeiten.
Auch wenn Jack dem Job nur wenig abgewinnen kann, lernt er doch liebenswerte Gestalten kennen, wie den mit allen Wassern gewaschenen Laufjungen Nathaniel oder den leicht altersdebilen, aber überaus liebenswerten Kanzleidiener Wigglesworth. Beide sind vereint in einer vehementen Abneigung Covert gegenüber. Zusammen mit Jack machen sie sich schließlich auf, den Machenschaften des Anwalts ein Ende zu setzen.
Jack Engles Leben und Abenteuer lebt in erster Linie von seinen Figuren und den geschilderten Milieus, der Plot ist eher vorhersehbar und am Ende eigentlich kaum der Rede wert. Die sympathischen Figuren werden denn auch mit aller zur Verfügung stehenden Wärme und Güte charakterisiert. Hier als Beispiel die Einführung von Ephraim Foster, Jacks Pflegevater:
Ephraim war einer der besten Menschen, die sich denken lassen. […] Er war, ohne groß darüber nachzudenken, von Natur aus gütig, tolerant und selbstlos, freilich auf seine eigene bescheidene Art, die aber deswegen nicht weniger bewundernswert war.
Dagegen die Charakterisierung Coverts, des hinterhältigen Rechtsanwalts:
Er war ziemlich groß, hatte einen starken Rücken und ein blasses, kantiges, glatt rasiertes Gesicht, und wer auch nur einige Kenntnisse von Physiognomien besaß, für den war ein gewisser frömmlerisch-satanischer Ausdruck in seinen Augen nicht zu übersehen.
Die Zitate zeigen zweierlei. Zum einen, dass hier ein klares Bild so ziemlich aller Figuren vermittelt wird. Es ist von vornherein klar, welche gut und welche böse sind. In seiner Einfachheit ist dies zunächst geradezu entspannend, wenn auch auf Dauer etwas uninteressant. Nun war der Sunday Dispatch, in dem Jack Engles Leben und Abenteuer erschien, kein Blatt mit höchstem Anspruch. Da waren einfache Mittel wohl die besten. Ein lebendiges Panorama vielerlei Figuren des New York der mittleren 1850er Jahre kann Whitman aber durchaus zeichnen. Komischerweise hat mich das hier transportierte Bild New Yorks aber immer mehr an die ländlichen Settings von Die Abenteuer des Tom Sawyer und Huckleberry Finn als an eine florierende Metropole erinnert.
Wahrscheinlich liegt das am Stil. Denn zum anderen ist aus den beiden Zitaten der auf heutige Leser*innen etwas gestelzt wirkende Stil der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts gut herauszulesen. Er erinnerte mich zunächst angenehm an die Romane und Erzählungen von Mark Twain, kann aber nie mit der Ironie, dem Humor und der politischen Hintergründigkeit des Genannten mithalten. Vieles wirkt dazu unrund, häufig werden etwa vermutlich lokale Redewendungen Wort für Wort übersetzt:
Manche Leute sagten zwar manchmal, er würde wohl nie den North River anzünden, aber Foster kam sogar in Geldangelegenheiten schneller und stetiger voran als andere, […].
Was soll das bedeuten? Natürlich kann man es sich irgendwie zusammenreimen, aber der Lesefluss gerät doch häufig ins Stocken. Auch eine erklärende Kommentierung, die es an vielen Stellen ja gibt, fehlt hier.
Am Ende ist Walt Whitmans Roman Jack Engles Leben und Abenteuer für mich maximal eine „Weltsensation“ für die Amerikanistik und Liebhaber des amerikanischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Er ist zwar durchaus kurzweilig und stellenweise witzig. Insgesamt krankt der Band aber an dem fehlenden Tiefgang des Inhalts und einer im Detail unentschiedenen Übersetzung und Kommentierung. Es bleibt bei einer netten Geschichte mit einem breit gefächerten Fundus an Figuren. Die großen Fanfaren der Werbung stehen dem kleinen Roman aber nicht sehr gut zu Gesicht.
Walt Whitman
Jack Engles Leben und Abenteuer
Eine Autobiografie, in der der Leser einige ihm wohlbekannte Figuren wiederfinden wird
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli
Nachwort von Wieland Freund
Manesse Verlag
186 Seiten | 22,– €
Erschienen am 22.5.2017
[…] Meinungen findet ihr auf Poesierausch und Fixpoetry zu lesen. Sehr gefallen hat er Little Words und auch Sounds & […]
[…] Meinungen findet ihr auf Poesierausch und Fixpoetry zu lesen. Sehr gefallen hat er Little Words und auch Sounds & […]
Ich habe mir den Titel schon auf meine Liste gesetzt. Auf jeden Fall finde ich immer wieder spannend, wie es gelingt, solche Funde in der vermeintlich bekannten Literaturgeschichte bzw. im Schaffen bekannter Autoren zu machen. Schön, wenn dann so ein Autor wie Whitman in einem ganz anderen Licht erscheint. Viele Grüße
Das stimmt, dass Whitman hier von einer neuen Seite gezeigt wird, fand ich auch besonders interessant an dem Buch. Und es ist eine ganz andere Seite, wenn auch meiner Meinung nach nicht seine stärkste. Interessant zu lesen ist das Buch aber in jedem Fall! Viele Grüße!
Mir geht es genau wie dir: Das Büchlein ist amüsant, (literatur)historisch ganz interessant und bietet ein paar schöne Stellen (z.B. die auf dem Friedhof), ist aber relativ belanglos und einfach auch recht kurz. Ein „Sensationsfund“ wohl wirklich nur für Kenner. Für alle anderen eine kleine „Zwischendurch“lektüre. Viele Grüße, Petra
Absolut, den ganzen Superlativen kann das nette, aber eben recht unbedeutende Büchlein kaum gerecht werden. Ein wenig leisere Töne wären passender gewesen. Viele Grüße!