Ein wunderschönes Cover. Vögel, die in alle Richtungen davon fliegen. Aber da ist noch mehr. Bei genauem Hinsehen kann man zwei Gesichter am unteren Rand des Covers entdecken. Sie sehen identisch aus, schauen sich aber nicht an. Allein durch dieses beeindruckende Cover wird schon unglaublich viel von Sasha Marianna Salzmanns Debüt Außer sich (Suhrkamp), das auch auf der diesjährigen Longlist des Deutschen Buchpreises steht, erzählt.
Die beiden Zwillinge Alissa und Anton haben immer alles zusammen durchgestanden: Ihre Kindheit in der kleinen Wohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen ihrer Eltern. Die Zeit im Asylheim in der westdeutschen Provinz. Den Neuanfang an einer deutschen Schule, auf der sie gehänselt und verprügelt werden, weil sie aus einem anderen Land kommen.
Doch eines Tages verschwindet Anton spurlos. Eine Postkarte ohne Inhalt aus Istanbul verrät, dass er sich dort aufhält. Alissa macht sich auf die Suche nach ihrem Bruder und lässt dabei als Erzählerin die Geschichte ihrer Familie Revue passieren. Sie erzählt von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern und berichtet so gleichzeitig vom Leben in verschiedenen Ländern und Systemen, vorrangig jenem in der Sowjetunion. Während Alissa nach ihrem Bruder forscht, entdeckt sie auch sich selbst neu. Nach und nach legt sie ihr biologisches Geschlecht ab und wird zum Mann. Anton kann sie allerdings nicht finden. Oder gibt es vielleicht gar keinen Anton? Immer stärker drängt sich diese Frage im Laufe des Romans auf – und ich bin ehrlich: Ich kann sie immer noch nicht eindeutig beantworten.
Außer sich vereint sehr viele Themen in sich. Zum einen ist dieses Buch ein Mehr-Generationen-Roman. Zum anderen erzählt Salzmanns Debüt aber auch von Genderidentitäten, Gewalt, Inzest, Migration, einer arrangierten Ehe, der Sowjetunion und schließlich auch von den Protesten im türkischen Gezi-Park von 2013, womit der Roman einen politisch aktuellen Bezug erhält.
In diesem Debüt passiert also eine Menge und es verlangt den Leser*innen viel ab. Ich habe Außer sich wie im Rausch gelesen, wollte stets mehr über Alissas Familie erfahren und war gespannt, ob sie Anton letzten Endes findet. Hierbei zog mich vor allem Salzmanns ausgereifter und sehr metaphorischer Stil in seinen Bann. Der Autorin gelingt es, genauestens zwischen stilistischer Überformung und reinem Erzählanteil die Waage zu halten, sodass Außer sich nie überfrachtet wirkt, sondern durch seine starken Bilder glänzt.
Sie lag auf dem Boden und schlug mit Wimpern wie eine Fliege mit ihren Flügeln. Sie wollte rauchen, ganz dringend, den Geschmack von ausgekochtem, wabbeligem Fett auf ihrem Gaumen wegrauchen, dieser Wunsch zog sie am Kragen hoch und raus aus der Klokabine.
Zudem lässt Salzmann in ihrem Debüt immer wieder große Interpretationsspielräume zu, die mich beim Lesen verwirrt, aber auch zum Nachdenken angeregt haben. Eine eher unzuverlässige Erzählstimme, die oft ihre Perspektiven wechselt, tut ihr übriges, um die Leser*innen von Zeit zu Zeit mit einem fragenden Blick zu versehen. Aber das macht gar nichts. Ich finde, Literatur sollte nicht zu bekömmlich sein, nur so beschäftigt man sich mit den verhandelten Themen. Ein so komplexes und stilistisch ausgefeiltes Buch habe ich schon lange nicht mehr gelesen.
Dennoch bin ich mir mit meinem finalen Urteil unsicher. Obwohl Außer sich für mich ein wahrer Pageturner war, bin ich am Ende meiner Lektüre zwiegespalten. Dieser Roman ist wirklich eine Wucht, von der ich mich allerdings auch ein wenig erschlagen fühlte. Für mich waren es einfach zu viele Themen, die Salzmann verarbeitet hat. Eine Konzentration auf zwei, drei Themen und eine genauere und tiefere Ausarbeitung wäre mir persönlich lieber gewesen.
Aber trotz allem: Außer sich ist ein herausragendes Debüt, das sicherlich noch für Furore sorgen wird in der Literaturwelt.
[GEWINNSPIEL]: Wir verlosen 3 Exemplare von Außer sich. Um zu gewinnen, hinterlasst einfach bis zum 17. September 2017 einen Kommentar unter diesem Beitrag. Die Gewinner*innen werden dann von uns ausgelost und benachrichtigt.
Sasha Marianna Salzmann
Außer sich
Suhrkamp
366 Seiten | 22,00 €
Erschienen am 9. September 2017
Ich hatte, obwohl mir der Roman sprachlich eigentlich sehr zusagte, auch so meine Probleme mit der Vielzahl an Themen und Anekdoten. Mein Fazit klingt also ganz ähnlich.
https://booksterhro.wordpress.com/2017/10/30/sasha-marianna-salzmann-ausser-sich/
Beste Grüße von der Ostsee! Bookster HRO
[…] Poesierausch […]
Toller Blog! Mich hat der Roman auch erschlagen. Leider wie bei so vielen Gegenwartsautoren wollte die Autorin zu viel. Zwei der vielen Themen hätten für mich vollkommen ausgereicht. Ich habe auch eine kleine Rezension verfasst. Noch ist das bei mir nicht besonders ausgereift, aber ich nehme mir euch als großes Vorbild. 🙂
Liebe Grüße
Silke
Liebe Silke,
da sind wir jetzt kurz ziemlich rot geworden. Vielen Dank für das Lob. Und bei „Außer sich“ sehe ich das genauso wie du. Ich werde mir gleich mal deine Rezension und deinen Blog anschauen.
Liebe Grüße
Juliane
Vielen Dank für deine Antwort und, dass du auch bei mir vorbeigeschaut hast. Das wiederum lässt MICH rot werden. ? Freut mich sehr! Ich bin gespannt auf weitere Besprechungen von euch.
Liebe Grüße!
Silke
Hallo meine Lieblingsbloggerin♥ (das ist keine Bestechung!)
Wie cool ist das denn, ihr verlost ein Buch, das ich auch unbedingt lesen möchte.
Besser geht es doch nicht. Und nach deiner Rezension bin ich noch neugieriger geworden, da ich bisher ausschließlich positives Feedback über das Debüt von Marianna Salzmann gehört habe. Ich bin gespannt, ob mich die Themenmenge auch erschlagen wird. Es ist immer schade, wenn bei so viel Inhalt, die Tiefe verloren geht. Weniger ist oft mehr. Bücher kann ich allerdings nicht genug haben, deshalb hoffe ich, dass ich ein Exemplar gewinne ?
Fühl dich gedrückt♥
Liebe Anika,
Bestechung lassen wir auch gar nicht erst zu! 🙂
Drücker zurück!
[…] » Poesierausch […]
Ich muss wirklich zugeben, dass mich die Leseprobe im Longlist-Heft nicht wirklich überzeugen konnte. Aber da hat man mich bereits eines Besseren belehrt und Eure Rezension macht zusätzlich wahnsinnig große Lust auf das Buch! 🙂 Vielen Dank dafür!
Sehr gern! Auch wenn es jetzt nicht zu meinen absoluten Lieblingsbüchern zählt, lohnt sich die Lektüre sehr, vor allem zum Diskutieren. 😀
Mich wundert es nicht bei der Fülle an aktuellen Themen und der scheinbar hohen literarischen Qualität, dass der Roman auf der Long Liste gelandet ist in diesem Jahr.
Deine Rezension macht mich sehr neugierig auf den Roman.
Als ich die Inhaltsangabe lass musste ich gleich an den Roman „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von Taiye Selasi denken. Auch hier ist ist es ein Zwillingspaar, ein Junge und ein Mädchen, die, wenn ich mich recht erinnere, ein Anker der Geschichte sind. Auch wenn der Inhalt sonst ein anderer ist.
Danke, dass ihr diesen Blog betreibt. Ich lese euch gerne und regelmäßig. Gute Literatur sollte mehr Unterstützer haben wie euch!
Vielen, vielen Dank für das Kompliment! Darüber freuen wir uns sehr.
Selasis Roman ist mir auch schon (vor allem aufgrund des auffällig bunten Covers) öfter in die Hände gefallen. Kannst du es denn empfehlen?
Das klingt ja ausgesprochen lesenswert! Salzmann hat übrigens auch einen Beitrag zur Reihe Hausbesuch (im Frohmann Verlag, in Kooperation mit dem Goethe Institut) geleistet, der auf mich ähnlich gewirkt hat, wie Du es in Deiner Beurteilung von „Außer sich“ beschreibst.
Die Reihe kannte ich noch gar nicht, klingt aber sehr interessant. Danke für den Hinweis und liebe Grüße!
Es gibt auch einen Sammelband aller Beiträge (als E-Book 4,99 – meine klare Empfehlung). Die Print-Gesamtausgabe ist extrem viel teurer, drei Bände für je 19,00 EUR, weil jeder Text in sieben (!) Sprachen enthalten ist. Das macht sich gedruckt natürlich im Umfang und damit im Preis bemerkbar, fällt aber bei einem E-Book nicht weiter ins Gewicht 😉
Liebe Grüße!
Ich lese auch gerade ein Debüt, das von Lize Spit, und fühle mich ebenso erschlagen. Nicht aufgrund der Fülle der Themen, sondern weil es harter Tobak ist. Salzmann habe ich schon bei meiner alljährlichen Herbstauslese notiert, ich bin wahnsinnig gespannt, ob es mir bei der Lektüre ergeht wie dir.
Der Roman von Lize Spit ist ja derzeit in aller Munde und ich weiß immer noch nicht, ob ich ihn auch lesen soll. Die Beschreibung des Buches mit „Das radikalste Update zu ‚Der Fänger im Roggen‘!“ auf der Website von Fischer macht mich schon neugierig. Andererseits habe ich in letzter Zeit schon so viele Bücher, in denen Gewalt thematisiert wird, gelesen. Ich habe das Gefühl, dass ich eine kurze Pause von alldem brauche. Na mal sehen…
Auf deine Meinung zu Salzmanns Debüt bin ich jedenfalls auch schon sehr gespannt.
Ich überlege seit geraumer Zeit auch, ob ich es lesen soll. Vielleicht habe ich ja bei der Verlosung Glück. Würde mich sehr freuen. Interessant klingt das Buch allemal.
Deine Rezension hat mich sehr neugierig auf das Buch gemacht und ich würde mich freuen, eines zu gewinnen. Liebe Grüße!
[…] » Poesierausch […]
Klingt wundervoll.
Ich möchte gerne an der Verlosung teilnehmen und freue mich nach der
deiner Rezension noch mehr auf die Lektüre von „Außer sich“.
Viele Grüße
Ich lese gerade dieses Buch, und, wie bei Dir, ergeben sich viele Fragen auch in meinem Kopf. Sprachlich ist es auf einem sehr hohen Niveau, und der Roman verlangt auch viel Konzentration ab, um die einzelnen zeitlichen Ebenen auseinanderzuhalten. Aber, wie Du schon schreibst, es zieht den Leser sehr stark hinein. Viele Grüße
Liebe Constanze,
da hast du vollkommen recht. Es ist sprachlich sehr gut ausgearbeitet, auch wenn es wohl nicht geschadet hätte, an manchen Stellen die Metapherndichte ein wenig zu verringern.
Konzentration ist bei diesem Buch auf jede Fall gefragt. Ich hab mich auch nicht getraut, den Roman mal einen Tag liegen zu lassen, weil ich Angst hatte, dann den roten Faden zu verlieren.
Viele Grüße!
Ich möchte dieses Buch auf jeden Fall auch für den Blogger Debütpreis lesen. Außerde habt ihr mich jetzt neugierig gemacht. Deshalb bewerbe ich mich hier mal für ein Exemplar. Viele Grüße, Petra