Wer bin ich? Wo komme ich her? Wer sich diese Fragen schon das eine oder andere Mal gestellt hat, wird das Thema von Die Fremden von Vicente Valero (Berenberg) nur zu gut verstehen: Der eigenen Familie auf den Grund gehen, nach denen Suchen, die nicht mehr da sind oder von denen nur ungern gesprochen wird.
Die Suche nach fremden Verwandten hat immer zwei Seiten: Zum einen das konzentrierte Erinnern, das Zurückdenken an oft weit entfernt in der Kindheit geschehene Momente, die auf die Fremden hinweisen. Die Aufschluss darüber geben könnten, wieso man selbst so wenig über sie weiß, sie vielleicht gar nicht kennen sollte. Und zum anderen das Forschen, das Befragen von Verwandten, Nachbarn, alten Bekannten und Freunden der Familie, ja vielleicht auch einfach des alten Wirts der Dorfkneipe. Sie werden alle irgendetwas zu erzählen haben, sodass sich das Puzzle langsam zusammensetzt.
Im kleinen Band Die Fremden von Vicente Valero spürt der Ich-Erzähler ein paar seiner Verwandten nach. Zum Teil lernte er sie selbst noch kurz kennen, zu Teil war ihre Existenz für ihn fast ein Zufallsfund. Dabei gräbt er sich durch das eigene Erinnern und versucht es mit den Erzählungen der Personen, die er auf seiner Suche trifft, zu verbinden.
Da wäre etwa der Leutnant Marí Juan, der Großvater des Ich-Erzählers, der kurz nach der Geburt seines ersten Kindes stirbt. Die letzte Zeit seines kurzen Lebens war er am Kap Juby stationiert, einem Teil Spanisch-Marokkos zwischen dem heutigen Marokko und Algerien. Wenig von ihm selbst ist erhalten, nur die Briefe und Romane des ebenfalls zu dieser Zeit, Ende der 1920er-Jahre, dort stationiert war, geben ein tristes Bild des Stützpunkts ab. Ein Besuch des Erzählers dort stützt den literarischen Eindruck. Als er der Tristesse endlich entkommen konnte, raffte ihn, gerade bei der Familie angekommen, eine Lungenentzündung dahin.
Und da ist Onkel Alberto, das um die gesamte Welt gereiste Schachgenie. Nach ewigen Jahre der Vergessenheit steht dieser plötzlich in der Kindheit des Erzählers vor der Tür. Sein Bruder hatte ihn eingeladen, er war gleich gekommen, um endlich seine Familie wiederzusehen. Er stellt sich als absolut eigenwilliger Kauz voller Marotten und Ängste heraus, doch genauso als liebenswerter und fürsorglicher Familienmensch. Während des Zweiten Weltkriegs verschlug es ihn nach Argentinien, wo er seine Proffesion fand: das Schachspiel. Bei einem Meister lernt er vor allem das Blitzschach, mit dem sich auch abseits der großen Turniere ein wenig Geld verdienen lässt und reist damit mehr schlecht als recht um die Welt. Ähnlich ergeht es in der Hinsicht dem Onkel Cervera, der als Tänzer um die Welt reiste, und dem Major Chico, der mit der republikanischen Armee den Franquisten Widerstand leistete. An seinem Grab endet der kleine Band.
Die Fremden von Vicente Valero schaffen es in den vier Kapiteln, kleine Stücke Vergangenheit kurz in der Vorstellung der Leser*innen zum Leben zu erwecken. In erster Linie sind diese Stücke um die ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gruppiert und schließen damit Schlüsselereignisse wie den Ersten Weltkrieg, den Spanischen Bürgerkrieg und daran anschließend den Zweiten Weltkrieg sowie das Ende der Kolonialstaaten mit ein. Nun kann ein so schmales Bändchen natürlich keine ganze Epoche ins Bild rücken, aber das ist auch gar nicht nötig. Man bekommt kleine Ausschnitte, genauer: kleine spanische Ausschnitte dieser Zeit präsentiert, die abseits der großen Erzählungen stehen. Oft rückt dabei auch die Heimat der Familie Juan ins Zentrum: Ibiza. Diese kleinen Seitenblicke abseits der Hauptschauplätze der Weltgeschichte fand ich sehr interessant.
Leider steht sich das kleine Buch bei der Vermittlung dieser interessanten kleinen Geschichten immer wieder selbst im Weg. Zugegebenermaßen ist es nicht leicht, eine Familiengeschichte plastisch und leicht nachvollziehbar bis in die kleinsten Verwandtschaftsgrade auszuleuchten und dabei die Quellen der jeweiligen Informationen immer transparent zu machen. Gerade auch wenn letztere immer wieder wechseln und widersprüchlich sind ist es ein schwieriges Unterfangen. Die mäandernden Sätze in Die Fremden scheitern zu oft an dieser Hürde, immer wieder musste ich Stellen mehrfach lesen. Oft ohne am Ende wirkliche Klarheit erlangt zu haben, da sich die verschlungenen Nebensätze und Einfügungen gegenseitig verwirren und Bezüge hier und da in den Zwischenräumen verloren gehen. Ein Beispielsatz:
Wie und warum mein Urgroßvater Vicente Marí darauf kam, aus diesem Jungen einen Mann machen zu wollen, der anders als die anderen war, weshalb er ihn schon früh aus dem Haus voller Schwestern und Schafe entfernte, habe ich nie gefragt, niemanden, der es vielleicht hätte wissen können, eine möglicherweise befriedigende Antwort könnte jedoch lauten, dass er sich zeitweilig reicher vorgekommen sein muss als er, wahrscheinlich, in Wirklichkeit war, was ihm zugleich das Gefühl vermittelt haben muss, er könne das Schicksal der Familie wenigstens in einem Spross einen anderen Lauf nehmen lassen, genauer gesagt, es in dieser Hinsicht, wie wir gleich sehen werden, den besseren Herrschaften aus der Stadt nachtun.
Vicente Valeros schön gestaltetes kleines Erinnerungsbuch Die Fremden greift über verschiedene Wege zurück in die Vergangenheit, um lose Enden eines Stammbaums aufzuspüren und sie wieder in Verbindung mit der Gegenwart zu bringen. Dabei berührt er immer wieder wichtige Themen der Geschichte und gibt interessante Seitenblicke. Sprachlich wirkt er aber leider etwas überfordert und macht es den Leser*innen schwerer als es sein müsste.
Die Fremden
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Verlag
128 Seiten | 22,- Euro
Erschienen im September 2017