Erreichbarkeit, Mobilität, Flexibilität – wir sind heutzutage alles, nur nicht allein. Oder finden wirkliche Ruhe. Die Protagonistin in Das große Spiel von Céline Minard (Matthes & Seitz) wagt den Ausstieg, sieht sich aber unerwartet mit mehr als nur Naturgewalten konfrontiert.
Einfach aufhören, alles stehen und liegen lassen, den Zwängen, Routinen und Verpflichtungen ein schönes Leben wünschen und gehen. Raus, weg, egal wohin. Wer hat nicht schon mal darüber nachgedacht? Wenn alles zu viel wird, man sich zwischen Arbeits- und Freizeitstress (und womöglich noch Familie) eingekesselt fühlt und nichts lieber möchte als einfach nur allein zu sein. Aussteigen.
Genau an diesem Punkt setzt Das große Spiel von Céline Minard an. Die Protagonistin sagt sich von ihrem Leben in New York los, um auszusteigen. Von einem „einfach so“ kann hier allerdings keine Rede sein. Minutiös ist ihr zukünftiges Leben im Hochgebirge durchgeplant. Mit Sponsoren hat sie ein Heim, eine Basisstation entwickelt, die auf engstem Raum alles Notwendige zum Überleben – und ein klein wenig mehr – bietet.
Sie ist meine Tonne. Die Tonne, in der ich leben werde und deren Gehäuse aus glasfaserverstärktem Kunststoff und Hart-PVC gefertigt wurde. Die Tür, die drei Seitenfenster und das Panorama-Rundfenster mit Blick in die Schlucht sind die fünf Öffnungen, durch die ich die Außenwelt beobachten und atmen kann, wenn ich mich im Innern aufhalte. Begraben im Schnee, geflutet von Sonne, vom Regen gepeitscht, im Nebel erstickt.
Es geht zunächst aber gar nicht so sehr um das Alleinsein, in das sich die namenlose Protagonistin hineinbegibt. Denn es gibt viel zu viel zu tun! Ein Garten will angelegt, den Naturgewalten getrotzt, Gemüse gepflanzt, bewässert, die Abläufe geplant werden. Und die Gegend muss erkundet werden, eventuelle weitere Nahrungsquellen erschlossen, Routen gefunden, Gipfel bestiegen werden. Eine Routine wird etabliert, fernab vom rat race der Großstadt, fokussiert auf einen einzigen Zweck: das Überleben.
Der Anfang erinnert stark an Henry David Thoreaus Aussteigerklassiker Walden. Beziehungsweise das, was mir davon in Erinnerung geblieben ist, denn ich habe das Buch vor etwa 15 Jahren mal angefangen, aber nicht zu Ende gelesen. Zu detailliert, zu ausufernd war es mir damals, aber die praktischeren Passagen haben mir sehr gut gefallen. Die gibt es auch hier, und das schmale Buch versteht es gut, nichts zu breit auszutreten.
Überhaupt ist hier alles sehr konzentriert. Die Sprache, genau wie die tonnenförmige Behausung der Aussteigerin, ist leise im Ton und auf das Wesentliche reduziert. Die Beschreibungen von Kletterpartien, Erkundungsgängen, Tücken der Gartenarbeit und des Angelns werden dabei immer wieder von kurzen Reflektionen unterbrochen. Denn plötzlich allein zu sein, wirft Fragen auf, die sich in der Hektik des städtischen Alltags meist nicht stellen. Heißt es am Anfang noch:
Man muss sich jeden Morgen aufs Neue bewusst machen, dass man Undankbaren, Neidern und Schwachsinnigen so lange begegnet, wie man auf andere Menschen trifft.
Jeden Morgen muss man sich fragen: Wer bin ich? Ein Körper? Ein Vermögen? Ein Ruf? Nichts von alledem. Welchen Weg vom Glück sollte ich versäumt haben?
So ändert sich die Fragestellung im Laufe der hochalpinen Grenzerfahrung, rückt im Angesicht der Einsamkeit das Spiel, das dem Roman den Titel gibt, in den Vordergrund:
Gibt es ein Spiel zwischen dem Wollhaufen und mir?
Der Wollhaufen ist ein ungebetener Gast, der den Ausstieg bedroht und die menschliche Komponente auf die reduzierteste Art wieder einfügt und damit alles gefährdet. Eine Herausforderung fernab der gesuchten Naturerfahrung taucht unverhofft auf und stellt alles auf den Kopf. Diese Herausforderung führt in den Roman ein Element ein, das Thoreaus Survivalistenklassiker fehlt: Das Abenteuer.
Das große Spiel ist dabei im Kern eine Reflektion über Beziehungen. In welche Beziehung zur Natur treten wir, wenn wir uns ihr ausliefern? Was denken die Gämsen über uns, wenn wir plötzlich in ihrem Revier auftauchen und sie uns stur ignorieren? Und, noch viel mehr: Was ist die Beziehung zu einem anderen Menschen? Was macht sie aus, was definiert sie? Das große Spiel: Aktion und Reaktion, eine Seite macht einen Zug, die andere reagiert mit einem Gegenzug, und immer so weiter. Das Spiel ist unendlich, die Möglichkeit zu entkommen praktisch unmöglich.
Céline Minards Roman verordnet sich irgendwie zwischen Walden und Robinson Crusoe, wobei letzteres eher symbolisch für klassische Abenteuerromane steht. Es versetzt das auf sich allein gestellte Überleben in die Gegenwart und stellt ihm die abenteuerliche Auseinandersetzung mit einer unbekannten, unerwarteten Person zur Seite. Auf deutlich zugänglichere Weise als Walden reflektiert die Protagonistin dabei über das Wesen des Menschen als spielendes Tier. Ein ebenso kurzweiliger wie nachdenklicher Roman.
Weitere Rezensionen gibt es bei Zeichen & Zeiten, 54books und Fräulein Julia.
Das große Spiel
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer
Matthes & Seitz
192 Seiten | 20,– Euro
Erschienen im Februar 2018