Robert Seethaler: Das Feld

Ein alter Mann streift über den kleinstädtischen Friedhof. Was für Geschichten wohl in all den Gräbern unter der Erde schlummern? Robert Seethaler lässt in Das Feld (Hanser Berlin) den Friedhof erzählen und schreibt eine oral history der Toten, die tief in die Seele des letzten Jahrhunderts blicken lässt.

Rober Seethaler: Das Feld

Für den ältesten Teil des Friedhofs im provinziellen Ort Paulstadt hat der Volksmund einen einfachen Namen: das Feld. Vom frühen bis ins spätere 20. Jahrhundert wurden hier Menschen begraben. Mit ihnen ihre Lebensgeschichten, Anekdoten, Freude, Leid. Robert Seethaler nimmt sich dieses Friedhofs an und lässt einen alten Mann die Stimmen der Toten imaginieren.

Knapp dreißig dieser Stimmen versammelt Das Feld. Die Personen, die aus ihren Gräbern sprechen, kommen aus den unterschiedlichsten Milieus und Schichten, haben die verschiedensten Hintergründe und starben auf die unterschiedlichsten Weisen. Kein Wunder, dass alle ihre unverhoffte Möglichkeit, zu den Lebenden zu sprechen, komplett anders nutzen. Von einem Wort bis zu fast zwanzig Seiten variieren die Umfänge, von einem lapidaren »Idioten« bis hin zu kleinen Biografien, ausführlichen Beichten oder Schilderungen erfahrener Ungerechtigkeit variieren die Inhalte. Viele Stimmen verhaken sich ineinander, erzählen verschiedene Seiten einer Geschichte. Viele stehen aber auch erst mal für sich.

So zum Beispiel die Geschichte von Stephanie Stanek, die von ihrer Deportation ins Konzentrationslager erzählt, und von der Rückkehr in ein verändertes Land, in dem sie nie wieder richtig ankommen konnte. Oder Pfarrer Hoberg, dessen religiöser Eifer ihn irgendwann in den Wahnsinn treibt. Von ihm hören wir in vielen Berichten, er ist eine der bekanntesten Figuren der Kleinstadt. Auch Navid al-Bakri, der Gemüsehändler, kannte Hoberg. Er ist eine Art Ruhepol im Figurenensemble, der selbst dann Ruhe bewahrt und mit Humor kontert, als er rassistisch beschimpft und sein Laden attackiert wird.

Ich habe meine Fragen an die Menschen gerichtet, nicht an Gott. Ich habe euch zugehört. Ich habe euch in die Augen gesehen. Ich habe euch verziehen, als ihr mir die Ladenfassade beschmiert und die Scheiben eingeschlagen habt. Als ihr mich Kameltreiber nanntet, habe ich gelacht und das Bild einer Karawane an die Tür geklebt. Ich habe gelacht, wann immer mir danach war.

Zu diesen etwas aus der Reihe fallenden Personen gesellen sich noch viele andere, deren Geschichten weniger herausstechen. Doch gerade sie zeichnen ein Bild dessen, was etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts Normalität war. Wir lesen mal offen, mal zwischen den Zeilen von Liebe und Hass, Armut und Reichtum, patriarchalen Strukturen, Konformitätsdruck, Ressentiments und Rassismus. Aber auch von Güte, Humor, Verzeihen und Frieden, den manche schließlich im Grab fanden.

Ich glaube, man kann jetzt schon ziemlich sicher sagen, dass Das Feld ein Phänomen ist. Es verdrängte immerhin den Kölner Bestseller-Garanten Frank Schätzing vom Thron der Spiegel-Bestseller-Liste. Über Wochen. Und dann auch noch mit einem Buch, das sich bewusst nicht Roman nennt. Das das stringente Erzählen, das wir bisher von Seethaler gewohnt waren, aufgibt zugunsten einer auf das Mindeste reduzierten Rahmenhandlung, in der nur Fragmente eingebettet sind. Leises, fragmentiertes, reduziertes Erzählen schlägt spannungsgeladenen Techno-Thriller – wer hätte das gedacht?

Meiner Meinung nach ist der Erfolg von Das Feld in diesem Ausmaß genauso unerwartet wie verdient. Mit sparsamen narrativen Tupfern schafft Seethaler es, die ganz kleine Geschichte einer beliebigen – und fiktiven – Kleinstadt des 20. Jahrhunderts zu erzählen. Paulstadt wird dabei zum Fixpunkt, an dem sich große Geschichte ins Kleine bricht. Seiner überaus sicheren Sprache und der guten Komposition ist es dabei zu verdanken, dass Das Feld auch ohne durcherzählter Handlung nie langweilig wird. Der Autor bleibt sich treu, erzählt jedoch nicht ein ganzes Leben, sondern viele, die sich zu einem kollektiven Narrativ verbinden.

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Robert Seethaler, Das FeldRobert Seethaler

Das Feld *

Hanser Berlin

238 Seiten | 22 Euro

Erschienen am 4.6.2018


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Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

5 Kommentare

  1. Eine hervorragende Kritik – die sehr schön in Worte fasst, was mir an diesem Buch so gut gefallen hat. Dankeschön hierfür!

        • Na das sind doch wunderbare Rezensionen, wird gleich abonniert! Seethaler ist auch einer meiner Lieblinge, hat mich bis jetzt einfach noch nie enttäuscht.

          • Das stimmt. Und er legt auch eine extrem spannende Entwicklung an den Tag, wie ich finde. Von „Die Biene und der Kurt“ bis hin zu „Das Feld“ lässt sich da eine sehr spannende künstlerische Weiterentwicklung beobachten.

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