[DBP 18] Susanne Röckel: Der Vogelgott

Nach Hitchcock jetzt Susanne Röckel: Sie verwandelt die lustige Vogelhochzeit in einen dunklen Alptraum. Der Vogelgott (Jung und Jung) besinnt sich auf die Tugenden der Schauerromantik und beschwört mit deren Mitteln einen gefiederten Gott aus den Abgründen des Dreißigjährigen Kriegs.

Susanne Röckel: Der Vogelgott

War es die Leidenschaft des Vaters für Vögel? Ist er auf seiner Jagd nach immer neuen Vögeln, die er ausstopfen und seiner Sammlung hinzufügen konnte, zu weit gegangen? Oder war es die Krankheit der Mutter, die sie vor ihrem Tod immer wieder in das kleine Kapellchen trieb, mit dem eigentümlichen Altarbild und den Wänden, die viel mehr wissen, als die Menschen im Innern? Oder war es einfach Schicksal?

Was auch immer es war, die Geschwister Weyde stehen unter einem schlechten Stern. Thedor, der Jüngste, weiß nicht recht viel mit seinem Leben anzufangen, die Tage und Wochen ziehen nach dem Abbruch seines Medizinstudiums ereignislos an ihm vorbei. Bis er von einem eigenartigen Mann für einen Auslandsaufenthalt im rätselhaften Kiw-Aza rekrutiert wird. Zwar soll er medizinische Hilfe leisten, vor Ort läuft aber alles anders. Als irgendwann mit Federn geschmückte Krieger in die Station einfallen, kann sich Thedor gerade noch retten. Sein Verstand ist jedoch seitdem schwer getroffen.

Auch Dora findet in ihrem Leben lange keinen rechten Halt, bis sie nach dem Tod des Vaters in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um dessen Wohnung aufzulösen. Zufällig sieht sie das eigenartige Bild im alten Kapellchen wieder und spricht mit dem dort nun wohnenden Mönch. Plötzlich schwebt ihr eine Promotion über das Werk vor. Sie beginnt, es eingehender zu untersuchen, und taucht immer tiefer in die Geschichte des Malers, Johannes Wolmuth, und in die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges ein. Je tiefer sie gräbt, desto dunkler und fahriger werden die Skizzen. Und desto mehr erkennt sie fremdartige Vögel in ihnen, die sie fast den Verstand kosten.

Der Älteste, Lorenz, hat sich eigentlich in eine bürgerliche Existenz eingefunden, ist glücklich. Bis er ein eigenartiges Mädchen mit schwarzen Augen trifft, das eine Begier in ihm weckt, die lange unterdrückt war. Als Journalist geht er seinen Instinkten nach, findet Verbindungen zwischen toten Kindern und Jugendlichen und einer Klinik. Das Bindeglied sind zittrige Vogelzeichnungen, die zunehmend in seinen Träumen lebendiger werden und ihn an den Rand des Wahnsinns treiben.

Eine Menge Wahnsinn für eine einzige Familie, bei allen verbunden durch Vögel und einen höchst eigenartigen Mann, der den dreien in verschiedenen Gestalten begegnet und ihnen allen den entscheidenden Stoß in Richtung Wahnsinn gibt. Der Vogelgott von Susanne Röckel sammelt die drei Erzählungen der Geschwister, jeweils aus der Ich-Perspektive erzählt und jeweils mit einem starken Sog in den Abgrund. Der Roman bedient sich dabei sowohl im Inhalt als auch in der Form sehr ausgiebig und frei an den Werken der dunklen Romantik, oder treffender: der Schauerromantik, deren Hauptakteur in Deutschland E.T.A. Hoffmann ist.

Fast alle Schlüsselelemente von Hoffmanns Werken finden sich auch in Der Vogelgott: Die drei Kapitel wirken wie die Vigilien des Goldenen Topfs. Der vogelartige, immer wieder in anderen Rollen und unter anderem, stets irgendwie ähnlichem Namen auftretende Mann erinnert stark an Coppelius aus dem Sandmann. Hinzu kommen typische Elemente der Schauerromantik: Intertextualität durch eingewobene Briefe, Märchen, Kunstwerke und Stücke; die Figurentypen des Tunichtgut (Thedor), der Künstlerin (Dora) und des Reporters/Schreibers (Lorenz); die allgegenwärtigen Zeichen von Vögeln, wie krächzende Stimmen, Federn, Schatten, entfernte Rufe. Und alle drei berichten im Nachhinein über eine Zeit, in der sie nicht ganz bei Verstand waren.

Diese inhaltlichen Elemente werden vom Stil gestützt, der sich an Hoffmanns Stil anlehnt, diesen aber vorsichtig in die heutige Sprache überführt. Zwar ist der Duktus von Der Vogelgott eher etwas antiquiert und künstlerisch-künstlich, gegen Hoffmann aber doch deutlich moderner:

Wenn ich ihn etwas länger ansah, wurde mir kalt, und ich merkte, wie es mich immer wieder schauderte. Glücklicherweise nahm er das Gespräch in die Hand, und ich hatte genug damit zu tun, das feine Porzellan zu bewundern und den chinesischen Tee zu probieren, den er mir einschenkte.

Er spielt wie das Vorbild mit den Mitteln der unzuverlässigen Erzähler. Immer wieder tauchen Worte und Fügungen wie »scheinbar«, »so als ob«, »es war wie« etc. auf, die das Erzählte immer in der Schwebe halten. Allein die typische Herausgeberfiktion fehlt dem Vogelgott, die aber durch die Einfügung eines kleinen Textes des Vaters als Prolog ersetzt wird. Denn der Text wird als »unveröffentlichtes Manuskript« gekennzeichnet, was allen drei Kapiteln den Anschein aufgefundener, authentischer Texte verleiht, und damit den gleichen Zweck erfüllt. Außerdem dient er als Omen für die Geschichten seiner Kinder.

Wir als Leser*innen stehen vor dem Dilemma: Glauben wir dem, was uns erzählt wird, oder rechnen wir alles, was die drei sehen, dem Wahn zu? Doch was treibt sie in den Wahn? Lehnt sich der Roman auch hier an die Romantik an, die im Allgemeinen als Gegenreaktion auf die beginnende Moderne, den Umbruch der Lebensverhältnisse im frühen 19. Jahrhunderts gedeutet werden? Ist also vielleicht eine Gegenreaktion auf die mediale Überforderung, die viele von uns heute psychisch in die Knie zwingt?

Ich tue mich schwer damit, den augenscheinlichen Anachronismus von Der Vogelgott zu deuten. Der Roman nimmt sehr gut Motive und Sprache der Schauerromantik auf und überführt sie in eine modernere Form. Er ist gruselig wie spannend, aber für meinen Geschmack auch etwas zu überladen mit unheilsschwangeren Zeichen. Darüber hinaus sagt er mir aber wenig, mir fehlt hier eigentlich eine zweite Ebene, ein Bezug zur Lebenswelt, eine Position, Kritik. Aber vielleicht ist das für ein modernes Kunstmärchen wie Der Vogelgott auch gar nicht nötig. Seine Verweigerung aktueller Bezugnahme hebt es jedenfalls deutlich aus dem Feld der anderen Longlist-Bücher heraus.

Susanne Röckel: Der VogelgottSusanne Röckel

Der Vogelgott *

Jung und Jung

272 Seiten | 22 Euro

Erschienen am 2.3.2018


* Dies ist ein Affiliate-Link. Falls du ihn anklickst und dich danach für den Kauf des Buches auf Genialokal entscheidest, unterstützt du nicht nur den unabhängigen Buchhandel, sondern auch uns. Wir erhalten eine kleine Provision, für dich bleibt der Preis des Buches natürlich immer gleich.

Kategorie Blog, Deutscher Buchpreis 2018, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

7 Kommentare

  1. Hallo,

    interessant, an E.T.A. Hoffmann habe ich aus einem unerfindlichen Grund gar nicht gedacht, ich fühlte mich des öfteren an Kafka oder Poe erinnert. (Was mich daran erinnert, dass ich den „Sandmann“ ohnehin schon länger mal wieder lesen will, das ist über zwanzig Jahre her…)

    Ich habe ein Faible für unzuverlässige Erzähler, wenn sie gut geschrieben sind, und hier fand ich das Stilmittel sehr gut gelungen.

    Das Fehlen aktueller Bezugname ist mir gar nicht als Mangel aufgefallen, weil das Buch für mich etwas sehr Zeitloses hatte.

    LG,
    Mikka

    • Hallo Mikka,
      auch interessant! Ich glaube ich werde bald mal wieder Kafka aus dem Regal nehmen, ich muss das auch nochmal auffrischen.
      Ich finde das Buch in sich auch sehr gut, super geschrieben, für mich nur mit zu vielen Anspielungen und Hinweisen auf den Vogelkult etwas überlastet.
      Eine aktuelle Bezugnahme muss für mich auch nicht immer drin sein, aber ich frage mich doch meistens, was mir ein neu erscheinendes Buch sagen will, wieso jemand es gerade jetzt geschrieben hat. Beim Vogelgott ist mir keine Antwort eingefallen, aber vielleicht ist das auch eine Art Grund: die Lesegewohnheiten durch Zeitlosigkeit verwirren… das gefällt mir dann schon wieder!

      LG
      Stefan

Kommentar verfassen