André Herrmann: Platzwechsel

Lieben, hassen, ignorieren, im Wald aussetzen? Man weiß nicht, was man mit der Verwandtschaft machen soll. In Platzwechsel (Voland & Quist) von André Herrmann kämpft der Protagonist mit seinen Gefühlen. Und das überaus komisch.

Andre Herrmann: Platzwechsel

Für viele Menschen ist es schon schwer, mit den beiden Personen, die einen auf unvorstellbare Weise vor vielen Jahren gezeugt haben, klarzukommen. Oder denen, die einen aufgezogen haben. Leider hat es mit diesen beiden nur selten schon ein Ende. Ein für Außenstehende vollkommen undurchsichtiges Netz von näheren und ferneren Verwandten spannt sich über den Horizont und verdunkelt das Licht unserer Tage.

Naja, ganz so dunkel muss das Bild der buckligen Verwandtschaft ja auch nicht immer sein. Bei André Herrmann und seinem gleichnamigen Protagonisten ist es zumindest eins: trist. Und wohl noch eins: laut. Und vielleicht doch auch noch eins: traurig. Und am Ende dann aber doch auch: zum Schreien komisch. Oft zumindest.

»Soooo«, sagte die Kellnerin, »sind wir vollzählig?«
»Wo is’n der Vater?«, fragte ich.
»Der is’ am Buffet«, sagte meine Mutter.
Kauend stellte sich mein Vater mit einem voll beladenen Teller an unseren Tisch.
»Is’ schön, dass du wartest«, sagte ich. »Willst’ dich nicht wenigstens hinsetzen?«
»Bin gleich fertig«, sagte er. »Dann geh ich noch ma’ vor!«
»Jaaa«, sagte ich. »Könnt ja sonst auch entspannt werden, das Mittagessen.«
»Also wir haben Buffet oder Karte«, sagte die Kellnerin.
»ALSO ICH ESS BUFFET!«, brüllte meine Tante kauend.

Es wird viel geschrien bei Familie Herrmann. »Antreh«, wie der Protagonist im breiten Dialekt Sachsen-Anhalts genannt wird, plagt sich den Roman über damit ab, zumindest halbwegs den Anstand zu wahren. Der titelgebende Platzwechsel hat stattgefunden: Plötzlich ist er der »Erwachsene« in der Familie, er muss die Zügel anziehen, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Die Älteren haben durchweg den Anschluss verloren und damit auch jeglichen Antrieb, sich einigermaßen sozial zu verhalten. Sowohl im Privaten als auch in der Öffentlichkeit lassen sie den eigenen Befindlichkeiten freien Lauf, was immer wieder zu schöner Situationskomik führt.

Aber es gibt auch eine tragische Seite. Ein Opa hat schwere Demenz, Alzheimer, und wird immer problematischer. Seine Krankheit stellt die Familie – und damit André – vor eine noch größere Zerreißprobe als das normale Zusammenleben es eh schon ist. Gleichzeitig bietet die Traurigkeit des Opas Ludwig einen guten Gegenpol zu den humorigen und manchmal auch etwas zotigen Szenen mit Familie und Freunden in der alten Heimat.

Denn man merkt André Herrmann seinen Beruf als Comedy-Schreiber und Poetry Slammer bzw. Lesebühnen-Betreiber schon gut an. Sehr performativ und lebendig kommen die Dialoge daher, von denen Platzwechsel lebt. Sie beschwören eine gute Situationskomik hervor, sind aber nicht zu sehr auf Pointe gebürstet. Allerdings haben einige der Lacher dann doch schon einen kleinen Bart, was aber wohl unvermeidlich ist, wenn es um Witze über die Generation Gaps zwischen uns, unseren Eltern und Großeltern geht. Über das Altwerden, Erwachsenwerden, über die leidige alte Heimat, die Provinz und die für den Städter, der man geworden ist, absolute Weltfremdheit der Provinzbewohner. Und man doch immer so eine Liebe in sich hat, die sich auch von den größten Dummheiten einfach nicht auslöschen lassen will.

Ich habe etwas gebraucht, um in Platzwechsel reinzukommen. Ich lese praktisch nie »lustige« Bücher, was sich trauriger oder deprimierender anhört, als es eigentlich ist. Jedenfalls fiel es mir zunächst ein wenig schwer, mich auf die lustige Leichtigkeit des Romans einzulassen. Doch irgendwann hatte Platzwechsel mich, und von dem Punkt an hat es mir wirklich Spaß gemacht. André Herrmann hat einen Roman geschrieben, der auf leichte Weise das Alt- und Älterwerden und den damit verbundenen Rollentausch thematisiert, ordentlich gewürzt durch das zusätzliche Gefälle einer Familie zwischen Stadt und Land.

André Herrmann: Platzwechsel

André Herrmann

Platzwechsel *

Voland & Quist

304 Seiten | 20 Euro

Erschienen im Oktober 2018


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Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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