Édouard Louis fragt in seinem neuesten Buch (S. Fischer) gewohnt provokant Wer hat meinen Vater umgebracht? Die Antwort könnte aktueller kaum sein.
Menschen in gelben Westen ziehen durch Paris und die französische Provinz. Sie hinterlassen stellenweise verbrannte Erde, setzen Gewalt ein, um ihre zugegebenermaßen nicht immer ganz klaren Punkte zu machen. Vereint sind sie aber zumindest in einem: der Wut auf die Politik und der Benachteiligung der mittleren und unteren Einkommensklassen. Der Stuhl des Präsidenten wackelt nicht unbedingt bedenklich, aber so brenzlig wie gerade dürfte es zwischen Regierung und Regierten in Frankreich lange nicht mehr ausgesehen haben.
Diese Entwicklungen konnte Édouard Louis natürlich nicht vorhersehen, als sein aktueller Roman Qui a tué mon père (Wer hat meinen Vater umgebracht) im Sommer 2018 in Frankreich erschien. Die Krise der Repräsentation, die tiefe Spaltung zwischen Politik und Bevölkerung war aber schon damals spürbar. Macron wurde zwar von vielen als Heilsbringer gefeiert; die Einschnitte, die seine Politik gerade in den unteren Einkommensschichten bewirken würde, waren aber bereits bekannt. Und dass dies das gesamtgesellschaftliche Tischtuch, das Hollande zuletzt so gründlich zerrissen hatte, nicht einfach wieder flicken würde, war wohl auch allen klar.
Die sehr gut gelungene deutsche Übersetzung Wer hat meinen Vater umgebracht erscheint nun Anfang 2019. Die Konflikte schwelen, brechen immer wieder impulsartig auf. Die Gelbwesten zerfleischen sich langsam gegenseitig, was bei der so unterschiedlichen Zusammensetzung auch nur eine Frage der Zeit war. In diese Stimmung passt die zornige Prosa Louis’ wunderbar. Denn auch bei ihm geht es nicht um eine explizite politische Agenda oder Änderungsvorschläge. Hier geht es erstmal ums Aufzeigen von Missständen. Und natürlich um eine höchst problematische Vater-Sohn-Beziehung.
Meine ganze Kindheit über hoffte ich, du würdest verschwinden. Wenn ich nachmittags gegen fünf Uhr aus der Schule kam, hielt ich nach deinem Wagen Ausschau, danach, ob er vor unserer Tür stand oder nicht. War er nicht da, so hieß das, dass du in der Kneipe warst oder bei deinem Bruder und erst spät zurückkommen würdest, vielleicht nach Einbruch der Nacht.
Kleine Zwischenbemerkung: Ich habe Das Ende von Eddy nicht gelesen, genauso wenig Im Herzen der Gewalt. Beides soll sich bald ändern, für den Moment betrachte ich aber das neueste kleine Büchlein ganz für sich. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Mir hat absolut nichts gefehlt, der Text funktioniert für sich allein ganz hervorragend. Kaum auszudenken, dass er noch mehr dazugewinnen könnte.
Denn Wer hat meinen Vater umgebracht verbindet auf seinen gut 80 Seiten so viel miteinander, bringt so viel ein, dass manch dicker Wälzer neidisch werden könnte. Es ist ungemein intim in seiner Schilderung der Beziehung zum Vater. Die direkte Ansprache des toten Vaters als Gegenüber schafft dies zum einen, die tolle, essayistisch-lockere wie emotionale Sprache zum anderen. Gleichzeitig ist das Buch ungemein politisch.
Der Vater war homophob, leicht reizbar, toxisch männlich und meist abweisend seinem Sohn gegenüber. Louis nimmt diese Schuld, die der Vater in vielen geschilderten Situationen dabei auf sich lädt, nicht von ihm. Er hasst ihn dafür. Doch gleichzeitig liebt er ihn auch und erweitert den Blick. Denn sein Vater kam aus armen Verhältnissen, die er Zeit seines Lebens nicht verlassen konnte, so viel er auch arbeitete. Die Mechanismen, die ihn daran fesselten und sein und damit auch Louis’ Leben zumeist nur noch weiter verschlimmerten, stellt er im Namen ihrer politischen Entscheidungsträger heraus.
Damit ist Wer hat meinen Vater umgebracht Anklage und Klagegesang, Abschied und Beginn eines wütenden Aufstands zugleich. Trauer und Wut mischen sich hier zu einer unwiderstehlichen Melange. Ich konnte das Buch kaum weglegen, diese Abhandlung über Armut und was sie aus den Menschen macht, die ihr qua Geburt ausgeliefert sind. Ein glühender Appell für eine soziale Wende, den liebevollen Blick nach unten. Auf genau die Menschen, die noch heute mit gelben Westen durch Frankreich ziehen und für ihr bescheidenes Stück des gesellschaftlichen Kuchens kämpfen.
Édouard Louis
Wer hat meinen Vater umgebracht *
Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer Verlag
80 Seiten | 16 Euro
Erschienen im Januar 2019
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Danke! „Das Ende von Eddy“ steht schon länger auf meiner Liste, aber jetzt habe ich direkt Lust, Louis noch ausführlicher zu entdecken.
Geht mir genauso, nach dem Buch hier muss schnell mehr her!