Julia Rothenburg: hell/dunkel

Gegensätze ziehen sich an, so auch in Julia Rothenburgs neuem Roman hell/dunkel (FVA), in dem sich zwei Halbgeschwister über den bevorstehenden Tod der Mutter näher kommen, als sie sich selbst hätten träumen lassen.

Julia Rothenburg: hell/dunkel

Krankheiten lassen sich ignorieren. Sie lassen sich ignorieren, bis es irgendwann einfach nicht mehr weitergeht, sie dem eigenen Leben so sehr entgegenstehen, dass nichts mehr geht. Ein wenig so geht es auch Valerie mit ihrer Mutter, die Krebs hat. Schon immer musste sie mal ins Krankenhaus, mal war es auch dramatisch, aber immer, wenn sie wieder zu Hause waren, schnell weggewischt. Alles wieder normal, als wäre nichts gewesen. Nur schwächer wurde die Mutter, immer ein wenig schwächer.

Doch diesmal ist es anders. Sie muss ins Krankenhaus, und schnell ist klar, dass sie es nicht so schnell wieder verlassen wird. Vielleicht nie wieder. Dass es das letzte Mal sein wird. Irgendwie ist dadurch alles anders als die Male davor. Deshalb kommt auch Robert, Valeries Halbbruder, aus Marburg. Während Valerie gerade auf das Abitur zugeht, hat der ältere Robert in Marburg studiert. Eigentlich hat er schon lange abgebrochen, aber das wissen Mutter und Schwester nicht.

Nun ist er aber wieder da, nicht nur zur Stippvisite an Weihnachten oder Ostern, sondern so richtig. Er bleibt in Berlin, richtet sich in der Kammer ein. So sind Valerie und er gezwungen, zum ersten Mal seit Jahren wieder ein wirkliches Verhältnis zueinander aufzubauen. Das beginnt schleppend, natürlich, steigert sich dann aber rasant in ein sexuelles Verhältnis, in das sich beide aus ihren ganz eigenen Gründen stürzen.

hell/dunkel erzählt von den Abgründen, die in Valerie und Robert klaffen. Es erzählt davon, wie sie durch die neue Situation gezwungen werden, in ihre eigenen Abgründe zu schauen, tiefer als je zuvor. Das bringt beide an ihre Grenzen, was sie ganz unterschiedlich zu bewältigen versuchen.

In einer kurzatmigen, schnellen Präsenz-Prosa beschreibt Julia Rothenburg die Wiederannäherung der beiden. Dabei neigt sich die Perspektive grob abwechselnd beiden zu, taucht vorsichtig in ihre Gedankenwelt ein, zeigt die Vergangenheit, ohne aber zu sehr abzuschweifen. So erfahren wir langsam aus der Vergangenheit immer mehr von der kleinen Familiengeschichte, während in der Gegenwartshandlung alles zu zerreißen droht.

Valerie ist froh, dass die Mutter hier bald wegkommt. Sie kann das Krankenhaus nicht mehr sehen. Diese quadratische Betonansammlung. Am meisten nerven sie die Familien und Rentner in der Mitte, auf den Bänken, auf dem Rasen, scheinbar egal bei welchem Wetter. Hier drinnen, im Innenhof des Westends, wirkt es immer so, als wäre gerade ein großes Falmilienfest im Gange. Aber keines, bei dem gelacht wird. Trotz der vielen Menschen liegt stets eine Bedächtigkeit in der Luft, die Valerie fast wahnsinnig macht.

Fast scheint es, als würde nur die sexuelle Anziehung der Halbgeschwister sie davor bewahren, endgültig auseinanderzubrechen. Sie geht von beiden gleichermaßen aus. Robert ist sich des Tabus, der drohenden Ächtung und der vielleicht schwerwiegenden Folgen einer Schwangerschaft zwar etwas mehr bewusst und versucht deshalb eher abzublocken, doch macht er am Ende fast immer mit.

Valerie pendelt beständig zwischen Ablehnung und Anziehung. Sie hasst es, dass Robert erst jetzt, da der Tod der Mutter unvermeidlich bevorsteht, kommt und sich als der große Bruder inszeniert, den sie so lange vorher schon gebraucht hätte. Dass er dabei aber eigentlich genauso hilflos ist wie sie, dies nur besser überspielen kann. Da hilft es, sich einfach in ihn zu versenken, denn er ist da, und er ist ihr so ähnlich wie er ganz anders ist.

Diesen Gegensatz, der dem Roman den Titel gibt, zelebriert hell/dunkel für mich etwas zu sehr. Er ist dunkel, hat von seinem italienischen Vater einen dunkleren Teint abbekommen als sie, die Helle, deren Vater praktisch keine Erwähnung findet. Er ist undurchsichtig, sie kann man lesen wie ein offenes Buch. Er ist schwermütig, sie sprunghaft. Überall ist Licht, umgeben von Schatten. Das ist alles ein wenig klischeebeladen, aber am Ende auch nicht zu schlimm.

hell/dunkel vereinigt nicht nur die Gegensätze von Valerie und Robert, sondern auch eine schroffe Sprache mit feinen Beobachtungen. Der Roman nimmt immer mehr an Fahrt auf, wird immer treibender. Allerdings bleibt bei mir die Frage offen, was er mir eigentlich sagen möchte. Aber vielleicht möchte er auch gar keine große Aussage vermitteln, sondern lediglich die Geschichte von zwei Halbgeschwistern erzählen, die sich in einer Extremsituation etwas zu nah aneinanderklammern und mit dieser zerbrechlichen Liebe zumindest sich selbst durch eine schwere Zeit retten können. Ob ihre Verbindung Bestand haben wird, bleibt aber im Dunkeln.

Julia Rothenburg: hell/dunkel

Julia Rothenburg

hell/dunkel *

Frankfurter Verlagsanstalt

313 Seiten | 20 Euro

Erschienen am 7. März 2019


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Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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