Wolfgang Ullrich und Annekathrin Kohout (Hgg.): Digitale Bildkulturen

Bilder sind klammheimlich zum Leitmedium geworden, Digitalisierung, Instagram & Co. sei Dank. Die neue Reihe Digitale Bildkulturen bei Wagenbach verschreibt sich den neuen Bildsprachen des Internets. Den Anfang machen die Herausgeber*innen selbst mit Selfies von Wolfgang Ullrich und Netzfeminismus von Annekathrin Kohout.

Wolfgang Ullrich und Annekathrin Kohout (Hgg.): Digitale Bildkulturen

Wer irgendwas mit Medien und Philosophie oder so studiert hat, der wird die Namen kennen: McLuhan, Austin, Pierce (um nur die prominentesten Amerikaner zu nennen) haben sich seit dem früheren 20. Jahrhundert an Zeichen abgearbeitet. Haben ausgelotet, was sie sagen bzw. zeigen können, wie sie das machen können, wie sie handeln, diskursiv eingesetzt werden können etc. Wohlgemerkt Zeichen, nicht unbedingt Bilder oder gar Fotografien.

Der Iconic Turn kam etwas später hinterher, der visuelle Medien als neue Leitmedien ausrief, und zwar 1994, von Gottfried Boehm. Dieser zielte schon eher auf Bilder und Fotografien, um deren Ästhetik mit der Pragmatik und Hermeneutik der Vorgänger zu verknüpfen. Extrem verkürzt gesagt, natürlich. Es gibt noch viele weitere Protagonist*innen, die seit vielen Jahren Bilder erforschen und versuchen, das Feld der Bildwissenschaft zu institutionalisieren.

Die Herausgeber*innen Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich beziehen sich in ihrer Einleitung zur Reihe auch genau auf diese Entwicklungen. Sie wollen die durch Digitalisierung und immer bessere Handykameras wahr gewordene Bilderflut und deren neue Bildphänomene erforschen. Etwas komisch klingt es vor diesem Hintergrund, wenn Ullrich in seinem Text vorschlägt, dass es eine pragmatische Bildwissenschaft geben müsste, um die neuen Phänomene zu betrachten. Beziehen sie sich nicht mit dem Begriff »Iconic Turn« genau darauf, auf die spätestens seit 1994 gestartete Bildwissenschaft? Geschenkt.

Ullrich wendet sich in seinem Band Selfies wohl dem prominentesten Bildphänomen zu, das die allgegenwärtigen Sozialen Medien in den letzten Jahren produziert haben. Er verteidigt das neue Genre dabei gegen Vorwürfe vor allem aus dem Lager der Kunstgeschichte. Diese sieht im Selfie mehr oder weniger den Untergang des Abendlandes, wenn man es mit kanonischen Selbstporträts vergleicht. Ullrich stellt es dagegen explizit in den Kontext eines mündlichen, will heißen flüchtigen Mediums komplementär zur Sprache. Ein Selfie ist ein Ausdruck, ein Statement, eine Reaktion auf einen bestimmten Kontext, und damit eine neue Form der Bildsprache, eine bildliche Kulturpraxis.

Annekathrin Kohout hat es in ihrem Band Netzfeminismus da deutlich schwerer, eine konsistente Argumentation aufzubauen. Das Problem ist ganz einfach, dass sie sich keine neue Bildform oder -praxis aussucht, sondern eine spezifische Form von Aktivismus, deren Diskurs sich zu einem beträchtlichen Teil über soziale Medien vollzieht, und darin auch neue Bildformen prägt. Der Fokus auf die Bildkultur des Netzfeminismus ist daher schwer zu halten, da sich Kohout erst daran abarbeiten muss, was Netzfeminismus im Gegensatz zu »normalem« Feminismus ausmacht, definieren muss, wie sich aktivistischer Netzfeminismus von bloßem Trend zu feministischen Statements unterscheidet, usw.

Am Ende geht es eher wenig um die eigentlichen Bildpraxen, und das ist schade. Es ist natürlich alles andere als uninteressant, den Netzfeminismus in die Geschichte des gesamten Feminismus einzuordnen und aktuelle Auseinandersetzungen nachzuzeichnen. Das macht Kohout anhand verschiedener Diskurse durchaus gut. Aber sie scheitert daran, die Linie zwischen Selbstdarstellung und Aktivismus genauer zu ziehen oder größere Diskurszusammenhänge so darzustellen, dass das Bild darin einen Schlüsselmoment einnimmt und nicht nur das Medium ist, das in sozialen Medien eben (noch) vorwiegend verwendet wird. Videos (oder gar Storys) kommen übrigens wenig vor. Der Band hat also durchaus seine Berechtigung, aber ob er zwingend in der Reihe Digitale Bildkulturen erscheinen musste, sei mal dahingestellt.

So bleibt ein gemischtes Bild vom Auftakt der neuen Reihe Digitale Bildkulturen. Ullrich zeigt, wohin es gehen kann, Kohout, wo die Herausforderung bei der Themenwahl liegt. Ich bin sehr gespannt, wie sich die Reihe weiterentwickelt, denn Potenzial ist in jedem Fall da.

Wolfgang Ullrich: Selfies

Wolfgang Ullrich

Selfies

Wagenbach

80 Seiten | 10 Euro

Erschienen im März 2019

Annekathrin Kohout: Netzfeminismus

Annekathrin Kohout

Netzfeminismus

Wagenbach

80 Seiten | 10 Euro

Erschienen im März 2019

Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen, Sachbuch

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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