Eingefroren liegen die Körper im Tank, während die Lebenden auf den Tod warten: Hendrik Otremba schreibt in seinem zweiten Roman Kachelbads Erbe (HoCa) eine düstere amerikanische Dystopie, die an Thomas Pynchon ebenso gemahnt wie an Jim Dodge.
Kryonik. Hendrik Otremba hat sich ein schön abseitiges Thema für seinen zweiten Roman ausgesucht. Man kennt es in verschiedensten Formen aus Science Fiction-Filmen wie Alien oder Solaris, in denen durch das Einfrieren und Auftauen von Menschen große Zeitabstände bei Reisen durch das All überwunden werden. Auch in Futurama ist das Thema präsent, wo die Köpfe von Menschen aus alten Zeiten auf Roboterkörpern ein neues Leben führen.
In Kachelbads Erbe geht es um ein Unternehmen in den USA, Exit U.S., das Menschen einfriert. Es ist eine Wette gegen den Tod, denn eine Technologie zum Auftauen und Wiederbeleben der eingefrorenen Körper existiert nicht. So lassen sich Menschen einfrieren, die auf eine bessere Zukunft hoffen, wann auch immer diese sein mag.
Der Roman ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die alle um den eigentlichen Protagonisten gruppiert sind: Kachelbad. Durch die in sich geschlossenen Erzählstränge erfahren die Leser*innen in kleinen Dosen immer mehr von dem verschwiegenen alten Mann. Mal gehen die Berichte weit in die Vergangenheit, mal treiben sie die Handlung in der Gegenwart des Romans weiter. Diese Gegenwart sind die 1980er-Jahre, was vor allem bei einer Episode über die beginnende AIDS-Epidemie deutlich hervorgehoben wird.
Kachelbads Erbe balanciert beständig auf der Schwelle zwischen einem handlungsgetriebenen und einem eher ideengetriebenen Roman. Das ist meist sehr ausgewogen und abwechslungsreich zu lesen. Naturgemäß geht es ziemlich viel um Fragen von Leben und Tod:
Wo sollten die Menschen hin, stürben sie nicht mehr? Der Körper, der nicht stirbt, verfällt auch nicht, wird nicht zu Erde. Was also, wenn die Menschen sich fortpflanzten, aber nicht mehr starben? Die Erde würde nicht mehr ausreichen, die irdischen Ressourcen eben so wenig wie der Platz. Die Menschen taten ja jetzt schon alles dafür, dass dieser Planet immer weniger bewohnbar wurde, verhielten sich, als gäbe es kein Morgen. Immer weniger Tiere gab es, und immer mehr Menschen.
Geschickt wendet Otremba den Diskurs seiner Figuren auch auf heutige Themen, die aus der Sicht der 1980er noch einigermaßen diffus klingen, aber durchaus schon vorhanden sind. Er schafft damit einen guten Mix aus nostalgischem Zeitkolorit der 1980er und dem Blick auf aktuelle Fragen aus der Vergangenheit. Umweltzerstörung, Überbevölkerung, globale Ungerechtigkeit, Zivilisationskrankheiten, Einsamkeit – dies sind nur die großen Themen.
Der Roman besteht aus Versatzstücken verschiedenster Menschen, größtenteils solcher, die eingefroren werden. Kachelbad erzählt im Mittelteil die Geschichten dieser Menschen, was später im Roman wiederum oft zum Thema wird. So schält sich immer mehr heraus, was in dem abgelegenen Industriegebiet vor sich geht. Hinzu kommt das eigentliche Science Fiction-Element des Romans neben der Kryonik: Alle Protagonisten können verschwinden, sich für andere unsichtbar machen.
Gleichzeitig gehen auch die Themen der verschiedenen Personen in verschiedene Richtungen. Das wird mir teilweise etwas zu plakativ präsentiert (AIDS), teilweise auch zu breit ausgetreten (Krekovs betrunkene Philosophie). Auf die gesamte Länge des Romans halten sich die Längen aber in Grenzen, nur zum Ende hin wird es etwas hart.
Kachelbads Erbe von Hendrik Otremba ist ein vielschichtiger Roman, der mit Zeitkolorit und philosophischen Themen punkten kann. Er präsentiert eine stringente Handlung aus verschiedenen, abwechslungsreichen Perspektiven. Allerdings hätte er etwas besser ausbalanciert werden können, die philosophischen Teile arten vereinzelt zu sehr aus. Davon abgesehen aber eine bereichernde Lektüre, die an Pynchon oder auch Jim Dodges Die Kunst des Verschwindens erinnert.
Hendrik Otremba
Kachelbads Erbe
Hoffmann & Campe
432 Seiten | 24 Euro
Erschienen am 5.8.2019
Ich fand den Roman ganz groß und auch sehr ausgewogen. Die Exkurse ins Philosophische etwa, sind ja gerade das, was den Roman so von vielen anderen abhebt. Eines meiner Jahreshighlights!
Da bin ich fast komplett bei dir. Nur die Balance fand ich nicht so ausgewogen, manchmal wurden mir die Exkurse doch etwas lang. Ansonsten: klasse Roman, der sich was traut.
Eine tolle Besprechung. Ich habe Kachelbad vor einigen Monaten gelesen und sammle meine Gedanken dazu immer noch. Vor allem das Ende hat mich sehr aus der Bahn geworfen.
Ja, ein sehr vielschichtiger Roman, ich habe mich auch schwergetan, alles zu ordnen.. aber es lohnt sich, sowohl das lesen als auch das Ordnen!