Eine geliebte Person verschwindet spurlos und wirft das Leben ihrer Freunde und Bekannten komplett durcheinander. Sabrina von Nick Drnaso (Blumenbar) erzählt von Trauer, Stress und Verdrängung, aber auch von dem großen Wunsch nach Normalität und Ruhe in der amerikanischen Mittelschicht.
Manchmal verschwinden Menschen einfach. Bei Sabrina ist es nicht ganz so, denn nach ihrem Verschwinden tauchen immer mehr Hinweise eines mutmaßlichen Entführers auf. Sind sie echt? In jedem Fall wird Sabrina nach ihrem Verschwinden ein vollkommen unfreiwilliger Medienstar. Ihr Fall wird vereinnahmt, es kursieren Gerüchte, von der Politik genauso wie von Verschwörungstheoretikern. Ein Alex Jones-Verschnitt berichtet täglich zu dem Fall, auch wenn es keine offiziellen Neuigkeiten gibt.
Das alles ist schwer zu ertragen, und damit meine ich nicht Sabrina, denn die ist im Prinzip kein Teil von Nick Drnasos unfassbarer Graphic Novel Sabrina. Der Plot dreht sich stattdessen um die Familie der Verschwundenen: ihren Mann Teddy, dessen Jugendfreund Calvin und Sabrinas Schwester Sandra. Sie alle sind mit einem Loch in ihrem Leben konfrontiert, mit dem sie sehr unterschiedlich umgehen. Teddy fällt vollkommen herein, wird depressiv, lethargisch, liefert sich aller Vereinnahmung des Falls hoffnungslos aus. Sandra dagegen kämpft, doch ist sie allein auf weiter Flur damit.
Sabrina wendet sich aber neben diesen beiden vor allem Teddys Freund Calvin zu, bei dem Ersterer unterkommt, um aus seiner gewohnten Umgebung zu fliehen. Calvin ist so etwas wie der weiße Durchschnittsamerikaner. Er hat einen recht guten Job beim Militär, ein Haus, ein Auto, eine Tochter, ist geschieden und hat bis auf seinen Job und den Traum, wieder mit seiner Familie zusammenzuleben, eigentlich nichts. Wir folgen ihm durch seinen Alltag und wie dieser durch Teddy auf den Kopf gestellt wird.
Der Zeichenstil von Sabrina ist außergewöhnlich. Vor allem darin, dass er das Gewöhnliche, den Durchschnitt des amerikanischen Lebens in der Mittelklasse in verwaschenen Bildern einfängt, die vor Tristesse nur so schreien. Die Abwesenheit von liebevollen Details passt perfekt in diese trügerische Idylle von entfremdeten Menschen, die Gesellschaft oft nur noch unter Schmerzen aushalten und sich lieber die wirren Hirngespinste von Verschwörern anhören, als selbst vor die Tür zu gehen. Wo das Internet den Kontakt mit der Außenwelt komplett ersetzt hat.
Die Graphic Novel ist dabei überraschend textstark. Ich habe bisher noch keinen Comic gelesen, der so viel Text bot und darüber auch eine so tiefe Stimmung erzeugen konnte. Sabrina ist derart dicht, dass es wiederum überhaupt keine Überraschung ist, dass der Titel als erster Comic für den Man Booker Prize nominiert wurde. Leider wurde die Größe des Buchs meiner Meinung nach etwas zu klein gewählt, wodurch die Schrift wirklich nicht mehr gut lesbar ist. (Und meine Augen sind noch okay!) Auch bin ich mir nicht sicher, ob die Farben wirklich so flau sein sollten, wie sie am Ende rausgekommen sind. Aber der Teil passt auf jeden Fall noch zum Inhalt.
Sabrina ist ein Erlebnis, das mit seiner dichten Stimmung und der genauen Beobachtung der Figuren begeistert. Es ist auch die Graphic Novel von denen, die ich bisher gelesen habe, mit der besten Sprache. Sie wirkt nie hölzern, sondern authentisch und tiefgehend, und zeichnet plastische Charaktere. Eine absolute Empfehlung, gerade auch für Leser*innen, die sich am Comic bzw. der Graphic Novel bisher noch nicht versuchen wollten.
Nick Drnaso
Sabrina
Aus dem Amerikanischen von Karen Köhler und Daniel Beskos
Blumenbar
204 Seiten | 26 Euro
Erschienen im September 2019