Juli Zeh: Unterleuten

Raus auf’s Land, in den Speckgürtel von Berlin ziehen, dahin, wo die Welt noch in Ordnung ist. Unterleuten, das Dorf in Juli Zehs gleichnamigen Roman (Luchterhand), scheint auf den ersten Blick dieser idyllische Ort zu sein, doch hinter der Fassade brodelt es.

Juli Zeh: Unterleuten

Vier Jahre ist es bereits her, dass Juli Zehs großer Erfolgsroman Unterleuten erschien. Vier Jahre lang lag dieses Buch in meinem Bücherregal. Ich hatte immer mal wieder begonnen, es dann aber aus unterschiedlichsten Gründen wieder weggepackt. Die meisten hatten mit der Dicke des Buches zu tun und damit, dass ich es unpraktisch fand für die U-Bahn-Fahrten. Vor Weihnachten versuchte ich dann einen weiteren Anlauf und blieb dran. Mehr noch: Die BewohnerInnen von Unterleuten haben mich regelrecht in ihren Bann gezogen, sodass ich gar nicht mehr aufhören konnte zu lesen.

Unterleuten ist ein kleines, fiktives Dorf in der Uckermark vor den Toren Berlins. Die Menschen, die dort wohnen, kennen sich schon ihr Leben lang. Zu ihnen gehören »Ostalgiker« und Wendeverlierer, aber auch jene, denen der Mauerfall gerade recht kam. Seit Berlin aus allen Nähten zu platzen droht, lassen sich auch immer mehr Zugezogene in dem kleinen Dorf mit den weiten Feldern und Wäldern nieder – zum Unmut der Alteingesessenen. Denn in Unterleuten will man unter sich bleiben. Hier wäscht noch eine Hand die andere und Fremden kann man sowieso nicht trauen.

Jeder geleistete Gefallen stellte eine Investition in die Zukunft dar.

Zu diesen Fremden gehört der Akademiker Gerhard Fließ mit seiner Frau Jule und dem gemeinsamen Baby Sophie. Er arbeitet in der Vogelschutzbehörde, um u.a. die letzten Kampfläufer zu schützen und dafür etwaige Bauvorhaben zu verhindern. Ein Exemplar des Kampfläufers kann man auf dem Cover sehen. Jule wiederum, früher Gerhards Studentin in Berlin, versucht, in ihre Rolle als Mutter hineinzuwachsen, was ihr schwer fällt und durch den alte Reifen verbrennenden Nachbarn Bodo nicht gerade vereinfacht wird. Ebenfalls zugezogen ist die »Rossfrau« Linda Franzen, in deren Lebensmittelpunkt das Pferd Bergamotte steht, für das sie auf dem Land ein Zuhause schaffen will. Zusammen mit ihrem Freund Frederik baut sie sich eine Scheune im Dorf aus, die von den Einheimischen eher gemieden wird – sie solle Unglück bringen.

Die »Neuen« versuchen sich zu integrieren, doch das gelingt nur oberflächlich. Als Unterleuten mehrere Windkrafträder bekommen soll, fördert ein Streit zwischen den verschiedenen Interessengruppen schließlich zu Tage, wie wenig die Zugezogenen auch mit noch so großer Anstrengung in die korrupten Machenschaften der Einheimischen eingreifen können. Es stellt sich schnell heraus, dass alle politischen und auch zwischenmenschlichen Zwiste in dem Dorf auf einen uralten Kampf zwischen Gombrowski, Inhaber des größten Arbeitgeber der Region, der Ökologica GmbH, und Kron, Altkommunist und Gombrowskis Erzfeind seit Kindheitstagen, zurückgehen. Am geplanten Windpark entfacht sich der jahrelange Streit von Neuem und endet schließlich tragisch.

Die Wahrheit war nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten.

Unterleuten ist der erste Roman, den ich von Juli Zeh gelesen habe, und ich bin immer noch begeistert. Dieses Buch ist Gesellschaftsroman, Politthriller und Geschichtserzählung in einem. Nicht nur stellt Juli Zeh hier sehr glaubhaft ein Dorf in der brandenburgischen Provinz dar – ich kann das bezeugen, komme nämlich aus genau solch einem und habe viele Parallelen erkannt, die die Autorin sehr zuspitzt –, sie blickt auch hinab in die Abgründe zwischenmenschlichen Zusammenlebens und hält der Nachwendepolitik den Spiegel vor.

Das Bemerkenswerte an diesem Roman war für mich allerdings das Zusammenspiel der verschiedenen Erzählperspektiven. Mit jedem Kapitel nehmen wir den Blickwinkel einer anderen Person an – und regen uns mit dieser über die jeweils anderen im Dorf auf. Dadurch schafft Juli Zeh Verständnis für äußerlich noch so fies wirkende Figuren. Einige der Personen im Dorf haben schlimme Dinge getan oder sind dabei, sie zu tun. Von außen betrachtet unverständlich und höchst unsympathisch, doch die Innansichten stimmten mich jedes Mal wieder milde. Jeder Mensch hat eben eine Vergangenheit, die ins Hier und Jetzt hineinspielt.

Ich weiß nicht, warum ich so lange gewartet habe, Unterleuten endlich komplett zu lesen. Es hat sich mehr als gelohnt. Dieses Dorf schockiert, rührt an und lässt auch schmunzeln – wohnen würde ich als »eene aus Berlin« dort trotzdem lieber nicht. Gut, dass es ein fiktiver Ort ist – oder vielleicht auch nicht? Die Homepage vom Unterleutener Vogelschutzbund sieht jedenfalls schön real aus und auch die Facebook-Profile einiger BewohnerInnen – tolle Extraebene zum Roman.

Und noch ein Tipp: Seit 2. März 2020 gibt es in der ZDF-Mediathek den Fernseh-Dreiteiler zum Buch.

Juli Zeh

Unterleuten

Luchterhand

640 Seiten | 24,99 Euro

Erschienen am 8. März 2016

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

4 Kommentare

  1. Hi Juliane 🙂

    Auch bei mir liegt Unterleuten schon ein Weilchen im Regal und aus unerfindlichen Gründen hab ich mich noch nicht drübergetraut es zu lesen. Deine wundervolle Besprechung macht aber Lust darauf, es gleich vom SUB zu fischen und loszulegen.

    Sonnige Grüße aus Salzburg
    Nana

    • Liebe Nana,
      ich kann es wirklich nur empfehlen. Das Buch macht wirklich Spaß, wenn man sich einmal im Unterleuten-Kosmos zurechtgefunden hat. Bin gespannt, ob du es auch magst. 🙂
      Liebe Grüße aus Berlin
      Juliane

  2. Nimmer Satt

    Ich freue mich sehr, dass es dir gefallen hat. Mich erinnerte es an vielen Stellen auch an mein kleines Dorf, mit den ganzen Gestalten. Es war sehr unterhaltend, aber eben auf einem höheren Niveau. Die Verfilmung habe ich mir auch schon reingezogen. Ich als Dorfi, fand die sehr gelungen.

    • Ja, stimmt, wenn ich an dein kleines Dorf denke und auch an die Dörfer meiner Eltern, sehe ich da große Parallelen. 😀 Ich muss immer noch den zweiten und dritten Teil der Verfilmung gucken. Bin schon gespannt, wie sie das Ende umgesetzt haben. :-*

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