Das beschauliche Liechtenstein in den Alpen. Literarsch war es bisher eher unerforscht, im Lichte der Finanzskandale der letzten Jahre setzt Benjamin Quaderer dem Fürstentum aber nun mit seinem Debüt Für immer die Alpen (Luchterhand) ein literarisches Denkmal.
Johann Kaiser ist ein anständiger Mensch. Ein Moralist gar, wie es später heißen soll, aber zu Anfang ist er einfach nur anständig. Im Gegensatz zu seinem Vater, der die Mutter vergrault und den Jungen danach kurzerhand ins Waisenhaus gibt, um mit seiner neuen Frau unberührt eine Familie zu gründen. Im Gegensatz auch zur Leiterin des Waisenhauses, die eifersüchtig auf die Fürsorge der Fürstin Gina für Johann ist und ihn dies täglich spüren lässt. Im Gegensatz auch zu seiner späteren Ziehfamilie, die ihn wegen eines Geldstreits verschleppen und foltern wird.
Und im Gegensatz nicht zuletzt zum kleinen Fürstentum Liechtenstein, aus dem er stammt, das ihm aber die Gerechtigkeit, die er sich erhofft, verwehrt. So entsteht eine Kette höchst persönlicher Demütigungen, die am Ende zu einer fundamentalen Demütigung des Fürstentums Liechtenstein, der Fürstenfamilie und der Staatsbank LGT führen wird: der Liechtensteiner Steueraffäre, ausgelöst durch die Übergabe einer CD mit geklauten Daten an den BND. Köpfe werden rollen. Es ist der erste große Finanzskandal vor den Panama Papers, Cum Ex usw., der wiederum die weltweite Finanzkrise Ende der 2000er Jahre weiter befeuerte.
In der Realität hieß Johann Kaiser Heinrich Kieber. Klang und Silbenstand sind die gleichen, und genauso nah hält sich Für immer die Alpen an die Realität bzw. an die Zeugnisse, die über den Menschen Heinrich Kieber vorliegen. Dies ist vor allem dessen selbstveröffentlichtes Buch Der Fürst. Der Dieb. Die Daten sowie das Sachbuch Der Datendieb von Sigvard Wohlwend. Benjamin Quaderer setzt damit dem größten Skandal des fünftkleinsten europäischen Staates ein literarisches Denkmal. Und zwar in Form eines fiktiven Memoirs, das tief in die Psyche Heinrich Kiebers aka Johann Kaisers eintaucht.
Bleiben wir nun bei Johann Kaiser, in der Literatur, bei Für immer die Alpen, soweit das bei einer so starken Verbindung zwischen Fiktion und Geschichte eben möglich ist – dazu später mehr. Der Roman ist in gewisser Weise eine literarisierte Variante von Kiebers eigenem Buch, nur bis in die Kindheit des Protagonisten erweitert und gerade dort sehr fiktional. Der alt gewordene Johann Kaiser (jetzt bleibe ich wirklich dabei) erzählt aus der Sicherheit im Zeugenschutzprogramm aus seinem Leben. Da es ihm um Glaubwürdigkeit geht, unterlegt er, wo es nur geht, seine Erzählung mit Belegen.
Es ist ein äußerst bewegtes Leben, sodass Für immer die Alpen mit reichlich Stoff versorgt ist. Dieser wird – damit es nicht langweilig wird auf den knapp 600 Seiten – stilistisch unterschiedlich umgesetzt. Mich als eher formalen denn als reinen Plot-Leser hätte das Buch ansonsten auf die Länge vermutlich komplett gelangweilt. Mit dem gebotenen Experimentierwillen ist es aber in Ordnung, wenn mir auch hier und da Teile zu lang waren. Überhaupt steigen wir als Leser*innen tief in das Seelenleben Kaisers ein. Jedoch natürlich nur so tief, wie er uns lässt. Ein klassischer unzuverlässiger Erzähler eben.
Von den vierzehn schwarzen Büchern, die mir als Grundlage für diesen Text dienen, habe ich jedes einzelne sorgfältig digitalisiert und an unterschiedlichen Orten gespeichert. Während sich die Originale mit allen wichtigen Dokumenten im Safe befinden, liegen die digitalen Kopien zum einen in einer Cloud und zum anderen auf einer Reihe verschlüsselter Hard Disks, von denen eine in der Sporttasche verstaut ist, die mit dem Nötigsten gepackt zum schnellen Aufbruch bereitsteht.
Was den Roman neben interessantem Plot, formaler Experimentierfreude und psychologischem Tiefgang für mich zu einem gelungenen macht, ist das Spiel mit Realität und Fiktion, Authentizität und Illusion. So wie uns der Erzähler vieles verschweigt, verschleiert oder auch einfach anders wiedergibt, als es wohl war, so macht uns auch das Buch durch seine hunderten Fußnoten, Schwärzungen und Zitate etwas vor. Nämlich echt zu sein. Das Zeugnis eines echten Lebens. Und auch wenn der Roman nah an das leben Kiebers angelegt ist, ist es doch reine Fiktion und führt uns damit aufs Glatteis der Liechtensteiner Alpen.
Für immer die Alpen ist ein beeindruckendes Debüt, das sich exzessiv seinem Thema widmet und seinen Protagonisten komplett durchleuchtet. Ein monumentaler Roman über den »Liechtensteiner Datendieb«, der mit formalem Spieltrieb die simple, lineare Grundstruktur des Memoirs in Spannung halten kann. Ein wenig irritierend ist allerdings der Rummel, der um den Roman gemacht wird. Hätte ich den Roman nicht so oder so lesen wollen, hätte mich die Marketing-Offensive vielleicht auch abgeschreckt. Gelohnt hat es sich dann aber doch.
Benjamin Quaderer
Für immer die Alpen
Luchterhand
592 Seiten | 22 Euro
Erschienen am 9.3.2020