[class] #2 Mit Hatice Akyün und Annett Gröschner

Ausgabe 2 von »Let’s talk about class« ist abgeschlossen, am Donnerstag wurde das Gespräch via YouTube live aus dem Berliner ACUD gestreamt. Mit Hatice Akyün und Annett Gröschner waren zwei Frauen dabei, die wieder Sichten aus dem deutschen Westen und Osten, aus den alten und den neuen Bundesländern zusammenführten. Wie gewohnt interviewt von Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer.

Die Klassengesellschaft bleibt weiter allgegenwärtig. Gerade in Zeiten der Krise zeigt sie sich aber noch stärker als sonst, wie Michael Ebmeyer zur Begrüßung ausführt. Denn soziale Isolation kann durchaus unterschiedliche Formen annehmen. So ist das Exil für ein junges Paar im Einfamilienhaus mit Garten eine durchaus andere Kategorie als die Großfamilie in der engen Wohnung ohne Balkon. Auch wochenlanger Schulersatz zu Hause gestaltet sich durchaus unterschiedlich, wenn die Eltern deutsche Akademiker*innen sind, als etwa in einer migrantischen Familie. Zu Hause könnte sich das Schulsystem nun als noch ungerechter erweisen, als es eh schon ist. Aber dazu später mehr.

Auch am Kulturbetrieb geht der Virus nicht spurlos vorbei. So wird die zweite Ausgabe von »Let’s talk about class« aus dem leeren ACUD via YouTube übertragen. Nur die vier Beteiligten sind – schön nacheinander und in geregeltem Abstand – vor der Kamera zu sehen. Aber was soll man anderes tun, als das beste aus der Situation zu machen? Und so stellt sich auch dieses Format als durchaus praktikabel heraus, wenn auch der Kontakt zum Publikum und die Diskussion so erst nachgelagert in den sozialen Medien stattfinden können.

Stoff bot der Abend in jedem Fall genug. Hatice Akyün erzählt im Gespräch mit Michael Ebmeyer von ihrer Herkunft aus Duisburg-Marxloh. Sie zeichnet dabei aber alles andere als das weit verbreitete Bild des Problembezirks. Ganz im Gegenteil erinnert sie sich an eine schöne Kindheit, in der der Fakt, dass ihre Familie aus Anatolien in den Ruhrpott gekommen war, eine untergeordnete Rolle spielte. Denn das Viertel war ein reines Arbeiterviertel, und als Kind einer Arbeiterfamilie war sie gewissermaßen voll integriert. So lernte sie zu Hause die türkische Kultur und Sprache und auf der Straße und bei ihren Freund*innen die deutsche.

Dass sie später einen sozialen Aufstieg machte und nun als Bestseller-Autorin gut situiert ist, verdankt sie allerdings dem Zufall, beteuert Hatice Akyün. Lehrer erkannten ihr Talent und förderten sie gezielt. Sie eröffneten ihr Chancen, die ihr ansonsten verwehrt geblieben wären. So ist auch ihr Weg aus dem Klassenkrampf klar: Das Bildungssystem muss umgekrempelt werden, um mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen. Erst wenn jedes Kind ohne Glück die gleichen Chancen auf ein erfülltes Leben hat, ist es Zeit sich zurückzulehnen. Gerade als soziale Aufsteigerin.

Nach dem Blick aus dem tiefsten Westen richtet sich der Fokus im Gespräch zwischen Annett Gröschner und Daniela Dröscher dann auf den Osten. Kaum überraschend ist der Begriff »Klassenkampf« für die 1964 in Magdeburg geborene Journalistin durch die DDR-Rhetorik ziemlich vorbelastet. Da ihr Vater Ingenieur war und die Familie damit zur »Intelligenz« gehörte, hatte sie es im Arbeiter- und Bauernstaat nicht leicht, war von Förderungen weitgehend ausgeschlossen. Klassenkampf als Staatsraison hat so auch sein ganz eigenes Aroma.

Passend zum 30-jährigen Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung in diesem Jahr – das aber wohl von der Corona-Krise komplett überschattet werden könnte – resümieren Gröschner und Dröscher, was in dieser Zeit erreicht wurde. Annett Gröschner hebt vor allem die neue Vielfalt hervor, die in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingezogen ist. Auch wenn diese wohl nicht unbedingt eine spezifisch deutsche Eigenart sein dürfte, wurde so doch die öffentliche ostdeutsche Selbstbeschäftigung seit der Wende erfolgreich zurückgedrängt.

Am Ende sieht Gröschner zwar den alten Klassenbegriff kritisch und tendiert eher dazu, die soziale Herkunft in das Tableau der Intersektionalität zu integrieren. Gleichzeitig besinnt sie sich aber auch auf eine Tugend des Sozialismus zurück, und zwar die Verstaatlichung. Natürlich nur von systemrelevanten Bereichen, aber doch als entschiedenen Schritt gegen ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft.

Der eigentliche Abschluss, nämlich das Lied von Aurélie Maurin aus der ersten Class-Runde, wollte dann nicht so richtig mit in den Stream, ihr könnt es aber hier nachhören. Nichtsdestotrotz war es wieder ein runder Abend. Hoffentlich kann die nächste Ausgabe Mitte Juni dann wieder vor Publikum stattfinden. Drücken wir alle die Daumen.


Die nächste Ausgabe von »Let’s talk about class« gibt’s am 18. Juni im ACUD. Hoffentlich.

Die gesamte zweite Ausgabe kann hier nochmal angesehen werden:

Kommentar verfassen