Marieke Lucas Rijneveld: Was man sät

Das düstere Cover mit einem Bild wie vom Anfang eines Horrorfilms verspricht nicht zu viel: Marieke Lucas Rijneveld hat mit Was man sät (Suhrkamp) ein geniales wie erschütterndes Debüt geschrieben, das dank der beeindruckenden Übersetzung aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen auch im Deutschen wirkt.

Was man sät

Puh, ich dachte ja, Je tiefer das Wasser von Katya Apekina wäre eine düstere, schwer auszuhaltende Lektüre gewesen, aber Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld übertrifft nochmal alles. Auf der letzten Frankfurter Buchmesse wurde mir das Buch bei einer Blogger*innenaktion vom Suhrkamp Verlag überreicht. Als auf meine Lesevorlieben zugeschnittenes Buch, aber auch mit den Worten: »Wir sind gespannt, wie du das findest. Es ist sehr abgründig.«

Abgründig trifft sehr gut, was der Protagonistin Jas, von allen nur »Jacke« genannt, in diesem Debütroman passiert. Die Zwölfjährige wächst in einer orthodox-calvinistischen Bauernfamilie irgendwo auf dem niederländischen Land auf. Jackes streng religiöses Leben verläuft relativ normal bis zu dem Tag, an dem sich alles ändern soll. Es ist Winter und Jackes Bruder Matthies geht ohne sie Schlittschuhlaufen. Außerdem ahnt sie, dass der Vater ihr kleines Kaninchen schlachten will. Aus Ärger und Trotz betet Jacke kurzerhand zu Gott, er möge doch bitte den Bruder anstelle des Hasen zu sich holen. Wenig später ereilt die Familie die Nachricht, dass der Bruder ins Eis eingebrochen und ertrunken sei. Der Beginn einer Familientragödie in mehreren Akten, über der stets der tote Matthies schwebt.

Sie sagten schöne Dinge über meinen Bruder, obwohl der Tod hässlich war und so zäh wie eine verloren gegangene Knabbernuss, die wir Tage nach einem Geburtstag irgendwo hinter einem Stuhl fanden oder unter dem Fernsehschrank.

Alle Familienmitglieder gehen unterschiedlich mit dem Verlust um, doch alle fühlen sich schuldig und tun auf verschiedene, aber immer brutale Weise Buße. Ein Gespräch über den Tod findet allerdings nicht statt, der Glaube verbietet es. Jacke, durch deren Blick die Geschichte erzählt wird, bekommt Verstopfung, sammelt in ihrer Jacke allerhand Dinge und zieht diese nicht mehr aus.

Nur mit Sachen, die ich sammle und sicher in meinen Jackentaschen verwahre, kann ich eine Erinnerung oder einen Menschen festhalten.

Ihr Bruder Obbe dagegen versucht dem Tod durch das Quälen von Tieren und seiner Schwester näher zu kommen. Jackes Mutter isst nicht mehr, kümmert sich um nichts und niemanden und ihr Vater stürzt sich in die Arbeit mit den Kühen, bis diese von der Maul- und Klauenseuche unmöglich gemacht wird. Es kommt zu Notschlachtungen, der Tod ist immer Teil dieser Geschichte.

Jeder Verlust trägt alle früheren Verluste in sich, etwas zu behalten, was man nicht hergeben wollte, aber trotzdem loslassen musste.

Selten war ich beim Lesen so angespannt wie bei diesem Buch. Durch den naiven und kindlichen Blick Jackes, die genauso wie ihre Geschwister auf vielen Ebenen nicht aufgeklärt ist, durchleben wir Schmerzen, Gewalt – physische wie psychische, insbesondere sexuelle –, Ängste und das Ringen nach Macht sowie Verständnis für das Unbegreifliche. Was man sät ist nicht für jede Person geeignet, ich habe die Lektüre stellenweise kaum ausgehalten. Menschen, die irgendeine Form von traumatisierender Gewalt erfahren haben, sollten sich genau überlegen, ob sie dieses Buch lesen wollen.

Bei all der Härte ist Was man sät aber auch ein herausstechendes Stück Literatur. Auf vielen Ebenen wird hier von einer dysfunktionalen Familie erzählt. Alle Vergleiche, alle Gleichnisse und Metaphern sitzen, die Sprache ist poetisch, aber kein bisschen verkünstelt. Ich habe so etwas noch nie gelesen und doch muss solche Lektüre nicht zur Gewohnheit werden. Was man sät ist wohl das beeindruckendste Debüt, das ich seit langem in die Finger bekommen habe.

Weitere Rezensionen findet ihr u.a. bei Fuxbooks, Zeichen & Zeiten, Let us read some books und ltrtr.

Marieke Lucas Rijneveld

Was man sät
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Suhrkamp

317 Seiten | 22 Euro

Erschienen am 9.9.2019

1 Kommentare

  1. Vielen Dank für deine Besprechung. Mein Feedreader beliefert mich mit immer neuen, meist spannenden Vorschlägen für meine Leseliste. Heute war es deine Besprechung zu ‹Mein kleines Prachttier› und zur besseren Einschätzung, klickte ich eben auch auf diese hier, zum Debüt des Autors, das ich bereits las. Mir fiel es schwer über das Buch zu sprechen, davon zu berichten, weil es so bedrückend war. Ich stellte mir unweigerlich die Frage, wieviel autobiografisches mag wohl darin stecken; einmal mehr nach dem Lesen deiner Besprechung zu ‹Mein kleines Prachttier›. Wieder geht es um dysfunktionale Beziehungen, was mich an ‹Oben ist es still› von Gerbrand Bakker erinnerte, wieder fühlt es sich in an, als ob es in einer weit entfernten Vergangenheit spielt, was es nicht tut und wieder entwickelte ich eine Abneigung gegen Religion, den Schaden den sie anrichtet. Danke für deine Besprechung, dein Lenken meines Blickes auf das neue Werk, wenngleich ich noch unschlüssig bin. Beste Grüße aus Amsterdam!

Kommentar verfassen