An Annie Ernaux und ihr Memoir Die Jahre (Suhrkamp) kommt man seit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung 2017 eigentlich kaum noch vorbei. Lobende Stimmen, soweit das Auge reicht. Meine Erwartungen an die Lektüre waren dementsprechend hoch.
Annie Ernaux wurde 1940 geboren und wuchs im Norden Frankreichs in eher einfachen Verhältnissen auf, studierte in Rouen und Bordeaux und arbeitete schließlich als Lehrerin. Sie heiratete, bekam Söhne, ließ sich scheiden und schrieb stets nebenbei. Seit 1974 werden ihre Texte beim französischen Verlag Gallimard veröffentlicht, seit den Achtzigern erscheinen einige von Ernaux’ Texten auch als deutsche Übersetzungen. Einem breiten deutschsprachigen Publikum wird die Autorin allerdings erst bekannt, als 2017 bei Suhrkamp die Übersetzung ihrer Autobiografie Les années (in Frankreich 2008 erschienen) von Sonja Finck herauskommt.
Das ovale sepiafarbene Foto klebt in einem aufklappbaren Umschlag mit goldenem Rand unter dünnem weißem Schutzpapier. Darunter: Ridel, Moderne Fotografie, Lillebonne, (Seine Inférieure), Tel. 80. Ein Kleinkind mit Babyspeck, Schmollmund und einer dunklen Haartolle sitzt halbnackt auf einem Kissen, das auf einem Holztisch liegt.
Beginnend mit diesem Babyfoto beschreibt Annie Ernaux in Die Jahre anhand von privaten Fotografien ihr eigenes Leben, aber vor allem das dazugehörige Weltgeschehen. Von der Nachkriegszeit über den Algerienkrieg bis hin zu 9/11 beleuchtet sie politische Umbrüche, historische Ereignisse und immer auch deren Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Der Fokus liegt dabei – logischerweise – auf Frankreich. Ich habe nicht nur viel über die Präsidentenwechsel und die damit einhergehenden Stimmungen im Land gelernt, sondern auch über die 68er-Bewegung im Nachbarland oder die dortige Emanzipation der Frauen.
Letzterer Blickwinkel war für mich auch das Besondere an diesem Buch: Der weibliche Blick auf ein ganzes Leben, auf Politik und Gesellschaft, zu Zeiten, in denen diese Perspektive noch weniger wert war als heutzutage. So ist Die Jahre nicht nur ein persönliches, sondern auch ein feministisches Zeitzeugnis, wenn Annie Ernaux das Erstarken der emanzipierten Frau in kleinen Schritten von der Nachkriegszeit bis heute beschreibt. Die Errungenschaften der zweiten Welle des Feminismus werden so herausgestellt und mir wird klar, wie viel Vorarbeit die Frauen vor uns geleistet haben und wie weit der Weg trotzdem noch ist.
All diese Ereignisse und auch ihr eigenes Leben beschreibt Ernaux in einem unpersönlichen Stil – zumeist mit »man«-Konstruktionen oder mit personaler Erzählerin, wenn es um sie selbst geht. Ganz am Ende des Buches referiert sie auf diese Technik und hält fest, dass sie ganz bewusst eine »unpersönliche Autobiografie« schreiben wollte – eine allgemeingültige, in der sich das Kollektiv der Menschen, die ebenfalls in diesen Jahren gelebt haben, wiederfinden können. Ich verstehe diesen Ansatz, finde ihn mutig und auch neu. Allerdings war mir der Erzählstil dann doch zu unpersönlich, zu distanziert und zu sehr als reine Aufzählung verschriftlicht – auch wenn Ernaux’ Sprache an sich eine sehr klare und poetische ist. Ich kam nicht richtig rein ins Memoir, nicht richtig durch und habe sehr lange gebraucht, dieses doch eher dünne Taschenbuch zu lesen.
Nichtsdestotrotz hat Annie Ernaux mit Die Jahre ein Stück Erinnerungsliteratur aus weiblicher Sicht geschrieben, das vor allem frankophile Menschen mögen werden und auch dazu anregt, über das eigene Leben nachzudenken. Darüber, was von der eigenen Geschichte bleibt und wie wir im Alter auf das Heute zurückblicken werden.
Annie Ernaux
Die Jahre
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
255 Seiten | 11 Euro
Erstmals erschienen am 11.09.2017