Das Berliner Nachtleben ist ziemlich legendär, egal ob in Westberlin, Ostberlin oder eben heute. Thorsten Nagelschmidt wendet sich in seinem Roman Arbeit (S. Fischer) den Personen hinter der glitzernden Fassade des aktuellen Nachtlebens zu. Hart, ergreifend, schön.
Endlich Feierabend, ab in die Nacht! Das denken sich nicht gerade wenige Menschen, endlich mal loslassen, endlich mal nicht an morgen denken, sondern dem Rausch frönen (und auch ausnahmsweise mal nicht dem Poesierausch, hahahaaa). Berlin ist da ganz besonders beliebt, zahlreiche Menschen kommen ausschließlich zum Feiern hierher.
Dass Feiern auch Arbeit bedeutet, die über das Katermanagement am nächsten Tag hinausgeht, führt Thorsten Nagelschmidt in seinem neuen Roman Arbeit ziemlich unterhaltsam und gleichzeitig auch sehr nachdrücklich vor. Nach dem Buch wird das gute alte Feierngehen plötzlich zu einem anderen. Es werden Schattierungen sichtbar, die vorher hinter blickdichten Vorhängen geschützt waren, um das Erlebnis nicht zu stören.
In Arbeit treffen besoffene Tourist*innen auf einen gestressten Türsteher und die Showrunnerin im Club, Hostelangestellte auf den verschwörungsgläubigen Dauergast auf Laberflash, Notfallsanitäter*innen auf Massen von potenziellen Gefahren und potenziell gefährdeter Menschen, Elend, Leid, das ihre Möglichkeiten bei Weitem übersteigt. Eine Pfandsammlerin trifft auf einen geläuterten Drogendealer, eine Kommissarin auf einen herumstreunenden Jungen, der sich nach einem sexuellen Fastübergriff nicht nach Hause traut.
Eine Schlägerei am U-Bahnhof Moritzplatz, unten auf dem Gleis. Das Pfefferspray hängt noch in der Luft, doch es ist niemand mehr da, nicht einmal der Geschädigte selbst oder die Zeugin, die die 110 gewählt hat. Nur ein alkoholisierter Amerikaner mit tränenden Augen, der zu Tathergang oder den Täterbeschreibungen nichts sagen kann, dann aber Schmerzensgeld zu wittern scheint und Anzeige gegen Unbekannt erstatten will.
Das Zitat veranschaulicht ganz gut, was Arbeit ausmacht und mir so unglaublich gut daran gefallen hat. Natürlich ist es gut komponiert, die Geschichten greifen alle mit der Zeit weiter ineinander, kommen immer mehr zu einem kohärenten, aber deshalb nicht weniger chaotischen Bild einer Kreuzberger Nacht zusammen. Das ist wirklich gut, entscheidend ist aber die Stimmung, die der Roman über die Figuren transportiert. Denn erst die Figuren, denen man immer näher kommt, geben dem Buch eine Melancholie, die fesselt. Ihre Träume zu erfahren, ihre Sehnsüchte und Ängste erzählt zu bekommen, ist bereichernd und spannend zugleich. Und es lässt auch noch deutlicher werden, wie wenig wichtig der große Partybetrieb für die Beteiligten am Ende ist. Es ist nur eins: Arbeit. Mehr nicht.
Thorsten Nagelschmidt lässt auf Der Abfall der Herzen, das zu überzeugen wusste und eher autobiografisch veranlagt war, einen Roman folgen, der reif wirkt, unterhält und tiefgreifend berührt. Das hat man nicht oft, ich bin absolut begeistert.
Thorsten Nagelschmidt
Arbeit
S. Fischer
336 Seiten | 22 Euro
Erschienen im April 2020