75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus erscheint endlich die deutsche Übersetzung des 1945 geschriebenen Essays Das KZ-Universum von David Rousset (Jüdischer Verlag/Suhrkamp). Ein bewegendes Dokument.
Männer aller Nationen, Männer aller Überzeugungen, denen Wind und Schnee in den Nacken klatschten und die Eingeweide gefrieren ließen, im Takt einer gellenden Marschmusik, die wie heiseres, höhnisches Fluchen klang, unter den blinden Scheinwerfern auf dem Appellplatz, in den eisigen Nächten von Buchenwald; Männer ohne jede Überzeugung, hart und ausgemergelt; Männer, deren Glauben zerstört, deren Würde vernichtet war; ein ganzes Volk von nackten, innerlich nackten, jeder Kultur und Zivilisation entblößten Menschen, mit Spitz- und Kreuzhacken, Hämmern und Schaufeln bewaffnet, an rostige Loren gekettet, zum Salzbohren, Schneeräumen, Betonmischen verdammt; ein von Schlägen gepeinigtes, von einem Paradies vergessener Speisen deliriertes Volk, die innere Spur der Zerrüttung – all diese Menschen in all dieser Zeit.
Ziemlich am Anfang von Das KZ-Universum steht dieser ergreifende Absatz, der die Leser*innen mit einem Ruck mitnimmt ins Konzentrationslager Buchenwald. Der Autor, David Rousset, war als politischer Häftling in diesem und anderen Lagern von 1943 bis 1945 inhaftiert. Er sah dort das vielbeschworene Unbeschreibliche, das Grauen des nationalsozialistischen Lagersystems. Er erfuhr es am eigenen Leib, auch wenn er als Politischer nicht ganz unten stand und daher von den schlimmsten Entwürdigungen und Misshandlungen verschont blieb.
Vielleicht war es gerade diese Tatsache, die ihn dazu bewog, noch im Jahr der Befreiung einen Essay über die Welt der Konzentrationslager zu schreiben. Dies ist gleich aus mehreren Gründen bemerkenswert: So scheint er trotz der Traumatisierung durch die Erlebnisse im Lager immer noch zu einem analytischen Zugang fähig. Ähnliche Texte entstanden sonst erst viel später, und dann meist mit Fokus auf ein einziges Lager. Doch er nimmt die ganze Welt in den Blick, den die Lager bildeten. Auch hätten andere angesichts der Informationen, die er von anderen Häftlingen bekam, vermutlich den Verstand verloren. Dass er auch Teil des Buchenwalder Todesmarsches war, setzt dem Ganzen die Krone auf.
Natürlich war die Faktenbasis für ihn als Häftling und im Chaos nach der Befreiung beschränkt. Roussets Darlegungen speisen sich in erster Linie aus seinen eigenen Erfahrungen sowie der Schilderungen anderer Häftlinge, die immer wieder aus verschiedenen Lagern umgelegt wurden. Doch diese Grundlage reicht, um mehr als nur Zeugnis abzulegen. Rousset sieht hinter Zusammenhänge, die erst viel später systematisch aufgearbeitet wurden. Er konnte damit schon Hinweise geben, die für die Zeit spektakulär waren. Ein System beschreiben, dass zuvor und seitdem ohne Vergleich ist, in dem Entwürdigung und Tod die perfide verknüpften Hauptrollen spielten. In denen aber auch Transit und Logistik entscheidend waren, was im Angesicht des Schreckens wohl nicht viele erkannten.
Umso erstaunlicher, dass der Essay erst 75 Jahre nach der Befreiung Deutschlands und der Welt vom Nationalsozialismus von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel ins Deutsche übersetzt im Land der Täter veröffentlicht wurde. In einer Zeit, in der rechte Parteien überall in Europa wieder starken Aufschwung haben, kommt er aber auch gerade recht. Denn nichts kann stärker gegen jede Form von Faschismus und Nationalismus sprechen als ein Zeitzeuge der nationalsozialistischen Lager.
Zusammen mit dem Nachwort von Jeremy Adler ist das ein rundes Paket. Der Sohn von H.G. Adler, des Holocaust-Überlebenden, Historikers (Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 1955) und Romanciers (Die Reise, 1962), führt in die geschichtlichen Hintergründe von Roussets Essay und dessen Rezeption ein. Eine kleine Pflichtlektüre, die viel zu spät, aber gerade noch zur richtigen Zeit auch auf Deutsch verfügbar gemacht wurde.
David Rousset
Das KZ-Universum
Mit einem Nachwort von Jeremy Adler
Aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
141 Seiten | 22 Euro
Erschienen am 20.1.2020