Nach den Hools kommen die Schausteller aka »Kirmser«: Philipp Winkler wendet sich in Carnival (Aufbau) wieder einer Randgruppe unserer Gesellschaft zu und erzählt empathisch von ihrer Geschichte.
In meiner Jugend war die Kirmes, oder eigentlich natürlich das Schützenfest, immer ein großes Ding. Plötzlich war was los im Dorf! Alle liefen viel herum, der Kirmesplatz war praktisch immer voller Leute, sowohl aus dem Dorf als auch von außerhalb. Es gab Fressbuden, Autoscooter, Raupe, Schießbuden und natürlich das Festzelt, das mit reichlich Bier und anderem dann später immer interessanter wurde. So viel war sonst praktisch nie los.
Diesem kleinen Ausnahmezustand im ansonsten eher gleichförmigen Leben in Kleinstädten und Dörfern nimmt sich Philipp Winkler in seinem neuen, gattungslosen Text Carnival an. Er ist die Rede eines Schaustellers, der auf sein Leben und das seiner Zunft zurückblickt. Einer Zunft, die ausstirbt. Denn die Digitalisierung und Modernisierung allgemein haben die Reize der Kirmes schwinden lassen, haben ihre Einzigartigkeit untergraben. Die Illusion kompletter Freiheit auf dem Rummel, einer Flucht aus dem Alltag, ist heutzutage einfach nicht mehr gegeben.
Aber was immer auch die Träume der Menschen gewesen sein Mögen, deren Wege in den vielen Jahren die Pfade der Midway gekreuzt haben, ob Kirmser oder Mark, sie alle waren Teil des einen großen Traums gewesen: der Traum von einem Ort, an dem jeder willkommen ist und der jedem, solange er das will, die Möglichkeit bietet, sich ein wenig zu verlieren, sich neu zu erfinden oder einfach nur eine verdammt noch mal gute Zeit zu verbringen.
Der Stil ist empathisch und emotional, immer nah am Organ des Erzählers, sehr mündlich und oft derb. Das passt sehr gut, und doch liegt gerade in diesem Stil auch der Punkt, der mich stark an Carnival stört. Der Text bezieht sich auf die USA, beschreibt die Kirmes bzw. eben die Carnivals dort und befindet sich damit ständig im Konflikt zwischen den Sprachen. Der Text ist auf Deutsch geschrieben, muss sich aber durchgängig bei englischen Wörtern, Begriffen und Wendungen anlehnen, was man leider sehr stark merkt und zu eigenartigen Auswüchsen führt. Wie eben der Selbstbezeichnung »Kirmser«, die ich komplett eigenartig finde, der »Midway«, den »Marks« – für mich geht dieser Sprachzwitter einfach nicht auf.
So setzt Winkler nach seinem überaus erfolgreichen Debüt Hool in Carnival wieder einer marginalisierten und zumeist missverstandenen Randgruppe der Gesellschaft ein kleines Denkmal. Inhaltlich finde ich das als nostalgischen Blick eines Außenseiters auf die gute alte Zeit vor der Modernisierung und Digitalisierung auch des ländlichen Raumes ganz schön. Es ist eine kleine Verlustgeschichte von Verlierern der Modernisierung, deren Gewerbe überflüssig wird in Konkurrenz mit der allgegenwärtigen virtuellen Welt, die allen nun überall offen steht. Leider kann sie für mich den sprachlichen Graben zwischen Deutsch und Englisch aber nicht auf überzeugende Weise überbrücken.
Philipp Winkler
Carnival
Aufbau
119 Seiten | 14 Euro
Erschienen am 18.8.2020