Karen Köhler: Miroloi

Nachdem Karen Köhler 2014 ihr Debüt Wir haben Raketen geangelt veröffentlicht hat, war schnell klar, welch großes erzählerisches Talent sie besitzt. Mit Miroloi legte die Hamburgerin 2019 ihren ersten Roman vor, welcher im Feuilleton und auf den Blogs bereits heiß diskutiert wurde. Jetzt habe auch ich ihn endlich gelesen.

Karen Köhler: Miroloi (Buch)

Karen Köhler nimmt uns in ihrem ersten Roman mit in ein kleines Dorf auf einer griechischen Insel. Fernab vom Festland herrschen hier eigene Regeln und Gesetze. Die Männer haben das Sagen, Frauen ist es verboten zu lesen, Hosen zu tragen oder zu wählen. Fortschritt wird ganz klein geschrieben, alles, was von »drüben« kommt, erstmal misstrauisch beäugt und in den meisten Fällen abgelehnt. Aber so richtig stört das die Dorfbewohner*innen zu Beginn nicht. Warum auch? Das Dorf hat schon immer so funktioniert, warum sollte man daran etwas ändern?

Unser Dorf hat einen Namen, es heißt Schönes Dorf, und es gibt eine Straße aus Steinen mit einer Kurve darin. Die Straße heißt Straße, fängt mitten im Dorf an und hört hinter der Kurve auf. […] Von hier oben kannst du das alles nicht richtig sehen, brauchst du auch nicht, wenn du ich bist, dann steckt dir das Dorf sowieso in den Knochen, den Adern, den Träumen. […] Alles hat hier einen Namen, nur ich habe keinen.

Wir lernen dieses Dorf durch die Augen der anfangs noch namenlosen Ich-Erzählerin kennen. Da sie als Baby vor der Tür des Bethauses abgelegt wurde und niemand so richtig weiß, wo sie herkommt, hat sie in den Augen der konservativen Dorfbewohner*innen auch keinen Namen verdient. Sowieso hält sie als Waise und damit Gottlose gern mal als Sündenbock für alles Schlechte auf der Insel her. Jemand erleidet eine Fehlgeburt? Die Namenlose ist schuld, weil sie die Schwangere einmal zu lang angeblickt hat! Schlechte Ernte? Die »Eselhure« ist schuld, diese Unglücksbringerin!

Einen guten Stand hat die Ich-Erzählerin im Dorf nicht, umso wichtiger sind die wenigen Menschen, die ihr zur Seite stehen: ihr Ziehvater, der ihr gegen alle Gesetze das Lesen beibringt, die Dorfälteste Mariah, die ihr zeigt, wie man schwimmt, Sophia, die sich mit ihr anfreundet, obwohl sie von ihrem Mann Schläge dafür bekommt, und schließlich der Betschüler Yael – ihre erste große Liebe, mit der sie eine heimliche Liaison eingeht. Er ist es auch, der ihr schließlich einen Namen gibt: Alina.

Mit dem Namen kommt auch der Mut, kommt die Rebellion gegen das patriarchale, unterdrückende System des Schönen Dorfes. Alina beginnt, den täglichen Trott auf der Insel zu hinterfragen, versucht auch andere Frauen aufzuklären und kämpft für ihre eigene Freiheit. Mich hat dieser Kampf stark an Der Report der Magd von Margaret Atwood erinnert. Karen Köhlers Hauptfigur Alina versucht auf der griechischen Insel, ein ähnlich dystopisches, frauenfeindliches Setting zu durchbrechen wie June in Gilead.

Karen Köhler zeichnet in ihrem Roman aber nicht nur eine erschreckend realistische Welt, die in manchen Zügen gar nicht so weit von den Systemen einiger Länder entfernt ist, sondern schreibt auch auf eindrückliche Art von Liebe, Freundschaft und dem Erwachsenwerden. Mit einer knappen, aber doch sehr poetischen Sprache erweckt sie Alina zum Leben, und zwischen all den schweren Themen schimmert auch immer wieder eine Prise Humor durch. Alinas Weg wird in 128 Strophen eines Mirolois verpackt – so heißt das Lied, das den Toten im Schönen Dorf nach deren Ableben gesungen wird.

Ich muss zugeben, dass mich das Buch in der Mitte fast verloren hätte, weil der erste Teil doch sehr davon geprägt ist, das Dorf in allen Facetten zu beschreiben. Mir war dieser Teil etwas zu lang, aber ich bin froh, dass ich drangeblieben bin – es hat sich gelohnt. Mit Miroloi hat Karen Köhler ein auf vielen Ebenen beeindruckendes Romandebüt geschrieben.

((Falls ihr euch in die Feuilleton-Debatte um Miroloi einlesen wollt, startet am besten mit diesem guten Überblicksartikel von Simon Sahner bei 54books.))

Karen Köhler

Miroloi

Hanser

464 Seiten | 24 Euro

Erschienen im August 2019

Kategorie Blog, Rezensionen

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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