[class] 5 Fragen an Nadire Biskin, Houssam Hamade und Mehdi Moradpour

Am 26. August findet die achte Ausgabe der Diskussionsreihe »Let’s talk about class« über Wege aus dem Klassenkrampf im Berliner ACUD statt. Ein weiteres Mal im Livestream – mit ein wenig Hoffnung auf Live-Publikum – und mit Motto: Es wird um das Wechselspiel der Kategorien »Klasse« und »Rassismus« gehen und um die Notwendigkeit, beides endlich zusammenzudenken. Zu Gast sind Nadire Biskin, Houssam Hamade und Mehdi Moradpour. Wir haben ihnen wie immer vorab fünf Fragen gestellt.

Let’s talk about class #8 – Veranstaltungsplakat

Nadire Biskin

Nadire Biskin
© privat

Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
»Klasse« ist diskutabel, weil man heutzutage von »Milieus« und »Schichten« spricht oder sprechen sollte. Mein Gefühl sagt mir, der Begriff ist wiederbelebt, teilweise weil die Durchlässigkeit immer noch nicht ist, wie sie sein sollte.  

Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Vermutlich hat mich meine soziale Herkunft geprägt wie all die anderen Identitätskategorien. Spannend ist, ob ich dadurch ein Muster wiederhole oder förmlich wegrenne.

Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Natürlich wäre ich gerne Kind von Reichen und Schönen, von jenen mit kulturellem und ökonomischem Kapital, aber nur mit den gleichen Eltern!

Welchen besonderen Zusammenhang siehst du heutzutage zwischen Rassismus und Klassengesellschaft?
Zusammenhänge zwischen Rassismus und Klassismus scheinen mir übertrieben komplex zu sein und doch zugleich offensichtlich. Das eine Problem zu lösen ohne das andere, ist für Menschen, die von beiden betroffen sind, keine Erlösung.

Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
Karine Tuils und Zadie Smiths Bücher lese ich sehr gerne, sie beschäftigen sich damit. Acht Menschen in Istanbul ist eine Netflix-Serie, die Klasse und Othering unter die Lupe nimmt. Eins der Highlights für mich in den letzten Jahren ist tatsächlich eine deutsche Doku: Betrug handelt, wie der Titel ahnen lässt, von einem Hochstapler in Bayern.

Nadire Biskin, in Berlin-Wedding geboren, hat ihr Lehramtsreferendariat abgeschlossen und schreibt Prosa, journalistische Texte und Essays. Ihr Debütroman erscheint Anfang 2022 bei dtv.


Houssam Hamade

Houssam Hamade

Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Ich halte die gesellschaftliche Klasse für ein Konzept, das uns sehr viel über Macht- und Ausbeutungsverhältnisse erklärt, aber auch darüber, wie eigene Einstellungen und Geschmäcker davon beeinflusst werden.

Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Tiefer als ich es mir vorstellen kann. Als ich an der Uni den Soziologen Pierre Bourdieu gelesen habe, der genau nachzeichnet, wie diese Prägung vor sich geht, fand ich das richtig kränkend zu merken, wie stark dieser Einfluss ist. 

Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Gute Frage. Also, das ist ein bisschen, als würde ich gefragt werden, ob ich ein komplett  anderer Mensch sein möchte und mein jetziges Ich sich in Nichts auflösen soll. Das geht ja irgendwie nicht. Gleichzeitig wünsche ich mir bestimmte Vorteile, die Bildungsbürgerkinder hatten. Dann hätte ich wohl nicht erst mit 37 das Abi gemacht und müsste vielleicht nicht so arm und prekär leben wie heute.

Welchen besonderen Zusammenhang siehst du heutzutage zwischen Rassismus und Klassengesellschaft?
Ich denke, dass beides untrennbar verwoben ist. Rassismus trägt außerdem dazu bei, die Klassengesellschaft zu festigen und zu legitimieren.

Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?
Auf jeden Fall Weinbach und Kempers Einführungsbuch zum Thema. Cedric J. Robinsons Buch Black Marxism ist dazu auch superinteressant. Und ich liebe die Serie Shameless, in der es um eine arme Familie in Chicago geht.

Houssam Hamade, Sozialwissenschaftler und Journalist, schreibt Bücher über Fragen wie: Warum prügeln sich Leute?, oder: Warum tun gute Menschen schlechte Dinge? Seit Jahren spricht und schreibt er zudem über Rassismus und Klassismus.


Mehdi Moradpour

Mehdi Moradpour
© Viktoriya Kharitonova

Wie stehst du zum Begriff »Klasse« und was bedeutet er für dich?
Der Begriff – oder das Gefühl, das ich damit verbunden habe – war in meiner Jugendzeit in Teheran schon ein entscheidender Bezugspunkt in meiner Sozialisation; neben Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit (der Azeri), Geschlecht und Sexualität in einem theokratisch-patriarchalen System. Da wurde mir bewusst, dass »Klasse« unterschiedlich prägende ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen hat, je nachdem woher und wodurch Macht, Ressourcen und Einflüsse entstehen.
Ich empfand und empfinde den ökonomischen Aspekt von »Klasse« als zentral. Er macht sichtbar, wie Abwertung und Ausbeutung von Menschen bewerkstelligt werden und welchen direkten Einfluss dies auf ihre Lebensform, Wohnsituation, Gesundheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat.

Wie hat deine soziale Herkunft dich geprägt?
Knapp geantwortet: sehr, in einem vielschichtigen Zusammenhang mit Praktiken, Werten und Einflüssen von außerhalb meiner sozial-kulturellen Klasse. Ich hatte schon als Jugendlicher enge Kontakte mit Menschen, die aus anderen Stadtteilen, Regionen oder sozialen und Bildungskontexten stammten.

Wärst du lieber in ein anderes soziales Milieu geboren worden? Wenn ja, in welches?
Nein. Aber ich mache ab und zu mal ein Gedankenexperiment und versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn meine Eltern »anders« gewesen wären oder wenn ich »woanders« aufgewachsen wäre.

Welchen besonderen Zusammenhang siehst du heutzutage zwischen Rassismus und Klassengesellschaft?
Rassismus und Sexismus sind treibende Kräfte für die Aufrechterhaltung des ökonomischen Ungleichgewichts in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie produzieren auch gezielt sozialen und kulturellen Ausschluss. Ungeachtet der Veränderungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten haben in vielen Gesellschaften immer noch viele ethnische Minderheiten oder Nicht-Weiße oder Frauen* weniger angesehene Stellungen im Arbeitsmarkt oder in der Politik. 
Gleichzeitig kann der Klassismus innerhalb der Zugehörigen einer Ethnie, eines Genders, einer kulturellen oder ideologischen Klasse Ungleichheit und Exklusion stark befördern. Um herrschsüchtige Begehrensstrukturen und Praktiken der Unterwerfung zu bekämpfen, ist es oft hilfreich, mehrere Blinkwinkel zu haben. 

Welche Bücher, Musik, Filme kannst du zu dem Thema empfehlen?

Magazine: AN.SCHLÄGE und MISSY
Texte: ZEIGE DEINE KLASSE: Daniela Dröscher | HERRSCHAFT UND KNECHTSCHAFT: G. W. F. Hegel (in: PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES) | NADA: Carmen Laforet | AGE, RACE, CLASS AND SEX: WOMEN REDEFINING DIFFERENCE: Audre Lorde | BRIEFE AUS DEM GEFÄNGNIS: Rosa Luxemburg | FREUNDLICHE FANATIKER: Pankaj Mishra
Filme: DAUGHTERS OF DUST: Julie Dash | PARASITE: Bong Joon-ho | QUER DURCH DEN OLIVENHAIN: Abbas Kiarostami | BlacKkKlansman: Spike Lee | YES: Sally Potter | THE HATEFUL 8: Quentin Tarantino
Musik: Daniel Kahn & The Painted Bird | Malaria!

Mehdi Moradpour wuchs in Teheran auf. 2001 brach er sein Studium ab und kam nach Deutschland. Seine Texte zu Kultur und Theater wurden mehrfach ausgezeichnet und übersetzt. Seit 2020 ist er Dramaturg an den Münchner Kammerspielen.


Let’s talk about class #8

»Ein Schulterschluss in der Klassengesellschaft kann nur anti-rassistisch gelingen.«

Nadire Biskin

Die Reihe Let’s talk about class widmet sich am 26. August im ACUD dem Rassismus der Klassengesellschaft. Die Autorin Nadire Biskin, der Sozialwissenschaftler und Journalist Houssam Hamade und der Dramaturg Mehdi Moradpour sprechen mit Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer über Mehrfach-Diskriminierung und Scheingegensätze.In der aktuellen Debatte zur Klassengesellschaft werden die Kategorien ›Klasse‹ und ›Rassimus‹ nahezu reflexhaft gegeneinander ausgespielt. Migrantisierte Lohnarbeit gegen ostdeutsche Renten, Gendertoiletten gegen Care-Ketten, Geflüchtete gegen weiße Post-Migrant*innen. Was setzen wir diesen Manövern entgegen? Wie beschreiben und bekämpfen wir den Rassismus der Klassengesellschaft?

Donnerstag, 26. August, 20 Uhr – Livestream aus dem ACUD Studio … ob zudem ein Live-Publikum zugelassen werden kann, wird kurzfristig je nach Corona-Situation entschieden.

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Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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