Was ist race? Mithu Sanyal lässt ihre Figuren in Identitti beständig um diese Frage kreisen und schafft es, dabei keine Sekunde zu langweilen. Völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis 2021 und mein Tipp für den Siegertitel.
Saraswati ist überall. Wo die Düsseldorfer Professorin für Postcolonial Studies auftaucht, steht sie im Mittelpunkt. Sie bestimmt den Diskurs, nicht nur in ihren Seminaren, sondern auch in politischen Talkshows und Podiumsdiskussionen. Egal ob in Deutschland oder international, Saraswati ist das Gesicht der Postcolonial Studies, ist Idol wie Hoffnungsträgerin für eine bessere, gerechtere und diskriminierungsfreie Gesellschaft. In Deutschland wie überall.
Neben ihrer medialen Berühmtheit ist Saraswati all dies aber für ihre Studierenden auch auf ganz persönlicher Ebene. Sie hat eine Begabung, große Diskurse in die kleinen, ganz spezifischen Leben ihrer Zuhörer*innen zu holen und ihnen darin eine Position zu geben, ihnen zu einer Identität zu verhelfen, die ihnen oft zuvor nicht zugänglich war.
Genau das ist Saraswati für Nivedita. Die in Essen aufgewachsene Tochter einer Polin und eines Inders hadert mit ihrer Identität, seit sie denken kann. Ihre noch junge Biographie ist gezeichnet von traumatischen Erlebnissen, die ihre Nicht-Zugehörigkeit zu allen Welten, zu denen sie gehören könnte, markierten. Verschlossene Türen, wohin sie sich auch wandte.
Saraswati ist die erste, die Nivedita mit ihren Büchern und dann als Dozentin einen Zugang zu sich selbst gibt. Zu einer lebbaren Identität, die sie mit Stolz erfüllt und ihr einen Platz in der Welt gibt. Bis all dies von der Nachricht erschüttert wird, dass Saraswati nicht indischstämmig ist wie Nivedita, sondern überhaupt keine PoC. Sie ist weiß. Alles also Fake, alles Betrug, alles falsch?
Identitti ist nach Niveditas Online-Persona benannt, unter der sie einen Blog über ihre Identitätsfindung schreibt und auch in den Sozialen Medien unterwegs ist. Der Roman erzählt personal aus der dritten Person ihren Weg durch den Skandal. Auf einer zweiten Ebene nimmt er dabei Niveditas Biographie mit hinzu, sodass über die gut 400 Seiten sowohl das Porträt eines Skandals als auch das einer komplexen Person entsteht, die paradigmatisch die Identitätskonflikte unzähliger PoCs in Deutschland und anderen Staaten des globalen Nordens veranschaulicht.
Nivedita hatte sich nie irgendwo repräsentiert gefühlt, bis Saraswati in jenes erste Seinar hineingerauscht kam. In diesem Sinn war Saraswati mehr ihre Familie als ihre echte Familie mit ihrer überempathischen Mutter und ihrem schweigenden Vater, der seine Geschichten niemandem erzählen konnte, nicht einmal sich selbst, aber vor allem nicht seiner antirassistischen Tochter, deren Wut auf das System nur von ihrer Wut auf ihn – weil er nicht wütend genug war – übertroffen wurde. Nivedita brauchte Saraswati, um herausfinden zu können, wer sie war.
Permanent dreht sich Identitti um zwei Fragen. Zunächst: Was ist race, was macht eine Person zu einer PoC, einer Person of Colour, und ist es möglich, von einer weißen Person zu einer PoC zu werden, also transrace zu sein, wie auch transgender möglich ist? Dahinter steht aber auch immer die ganz konkrete Frage danach, was die Beantwortung der Frage für PoCs, die als solche geboren und aufgewachsen sind, bedeutet. Wie eben für Nivedita, die ihr Leben lang mit der Suche nach ihrer Identität zugebracht und darunter gelitten hat.
Identitti schafft es auf exzellente Weise, diese beiden alles andere als einfachen Fragen beständig zu drehen und zu wenden, von allen Seiten zu beleuchten, und doch nie einen belehrenden Zeigefinger zu heben oder eine Lösung vorgeben zu wollen. Dies gelingt vor allem deshalb, weil der Roman alles erzählt, also die diskursiven Wendungen in eine Geschichte einbindet, die Leichtigkeit erzeugt, wo Schwere alles zerstören könnte. Hier ist Niveditas Charakter in Kombination mit ihrer Cousine Priti ein Schlüssel. Der zweite ist Niveditas beständiges inneres Gespräch mit der männermordenden indischen Göttin Kali. Beides bringt ordentlich Humor mit rein.
Außerdem ist Identitti sehr vielstimmig angelegt. Tweets, Posts, Nachrichten und YouTube-Videos ziehen sich durch den Roman und bringen immer wieder Input von außen, während sich Nivedita und Saraswati mit leicht wechselndem Personal in der Wohnung der Professorin verschanzen, um den Skandal zu durchleben. Mithu Sanyal hat hier ganze Arbeit geleistet und reale Protagonist*innen aus den sozialen und traditionellen Medien herangeholt, die Tweets und News zum Roman beigesteuert haben.
Gerade dieses Moment der Authentizität macht Identitti so unglaublich packend, diskursiv, bereichernd und eben auch – unterhaltend. Der Roman ist so perfekt ausbalanciert, dass es einfach eine reine Freude ist, ihn zu lesen. Bei diesem Thema eine unglaublich Leistung, die man nicht hoch genug anrechnen kann. So ist es auch kein Wunder, dass ich mich nach dem Ende des Romans auch noch in der Literaturliste festgelesen habe. Identitti macht so neugierig, dass es einfach eine Wonne ist. So muss Literatur sein. Wenn der Roman nicht den Deutschen Buchpreis gewinnt, dann weiß ich auch nicht mehr.
Mithu Sanyal
Identitti
Hanser
432 Seiten | 22 Euro
Erschienen im Februar 2021
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