Archaische Romanze ohne Patina: In Greta und Jannis bringt Sarah Kuratle das Gewaltige des Gebirges mit einer kleinen, ganz heutigen Romanze und Coming-of-Age zusammen. Dunkle Abgründe und eigenständige Sprache inklusive.
Wer aus dem Flachland kommt, aus der weiten, fast unendlichen Ebene, kann das Gebirge kaum fassen. Alles ist beständig zu groß oder klein, zu hell oder zu dunkel, zu weit oder zu eng. Riesige Berge wechseln ab mit tiefen Tälern, in denen die Sonne im Winter nur stundenweise scheint und die gewaltigen Schneemassen ganz leicht antauen, das einzige Geräusch sind die von Dächern fallenden Eiszapfen und ein leises Knacken des Schnees.
Greta und Jannis spielt im vorletzten Dorf des Tals. Welches Dorf in welchem Tal dies ist, bleibt unbekannt. Wahrscheinlich, weil es keine Rolle spielt. Denn der Debütroman von Sarah Kuratle ist ein Kleinod, das die Zeit genauso transzendiert, wie es sie einfängt. Immer wieder treffen sich das Archaische, Urzeitliche und die Moderne, die Gegenwart. Wie die Weite der Aussicht vom Berg mit der Enge des Tals zusammenhängt, hängt auch in der Geschichte alles zusammen, hell und dunkel, Vergangenheit und Gegenwart. Und vielleicht auch die Zukunft.
Zwei Tage weg vom Hof und Greta vermisst den Geruch von der Backstube, den frischen Broten, einem Butterzopf, den sie heimlich in schwarzen Kaffee tunkt, wenn sie keines der Kinder beobachtet. Schmatzend und schlürfend genießt sie dann die vollgesaugten Brocken im Mund. »Wie das aussieht, Greta«, beschwert sich Tate Severine manchmal. Sie sieht aus wie Jannis beim Frühstück. »Jannis, ich fahre schon heute«, er sagte nichts, damals, vor Jahren, lieh ihr für den Weg zum Bahnhof einen Schirm, den Greta nie mehr zurückgab.
Die Handlung spinnt sich beständig um das sich immer weiter wandelnde Verhältnis von Greta zu Jannis auf zwei Ebenen. Eine springt durch Momente der Vergangenheit, eine springt in der Gegenwart vorwärts. Der Roman folgt Greta in personaler Perspektive, nur selten wechselt die Perspektive kurz zu anderen Personen. Das Ensemble ist klein: Da ist Tante Severine, Gretas Ziehmutter; dann Gretas eigentliche Mutter; Gretas Ziehgeschwister, die Waisen Flora, Melina und Chaspar; sowie der neue Nachbar Cornelio und Jannis’ Familie. So spiegelt sich die Enge des vorletzten Dorfs im Tal auch in den wenigen Personen, die auftauchen.
Noch viel mehr spiegelt sie sich allerdings in der Sprache von Greta und Jannis. Hatte mich gerade die Sprache von Sarah Kuratles Text auch schon beim 27. open mike gepackt, an dem sie 2019 teilnahm, ist sie auf Romanlänge noch eindrucksvoller. Kunstvoll spinnt sich der Erzählfaden zwischen den Zeitebenen, springt assoziativ von einer Situation zur anderen. Manchmal alles innerhalb eines einzigen, hypotaktisch mäandernden Satzes. Das Vokabular ist dabei am Randständigen des abgelegenen Dorfs geschult, wirkt so kunstvoll gestaltet wie aus der Welt gefallen. Das braucht große Aufmerksamkeit und ist ohne Frage keine leichte Lektüre, die hier und da auch mal anstrengend wird. Aber sie lohnt sich.
Greta und Jannis ist eine Romanze, die zwischen den Zeiten wie den Stimmungen springt. Diese Sprünge sind kunstvoll in eine Sprache gekleidet, die aus der Zeit gefallen und doch ganz tief im Heute verwurzelt ist. Sie lässt die Welt des Gebirges im Kopf der Lesenden entstehen, die von ganz eigenen Personen bevölkert ist. Ein herausfordernder wie bereichernder Roman, der viel wagt und ebenso viel gewinnt.
Sarah Kuratle
Greta und Jannis
Vor acht oder in einhundert Jahren
Otto Müller Verlag
232 Seiten | 22 Euro
Erschienen im August 2021