Und wieder wird kurz angerissen bei Poesierausch. Diesmal mit Büchern von Nora Bossong, Martin Lechner und Margaux de Weck.
Nora Bossong: Schutzzone
Die UN sind ein unglaublich riesiges Konstrukt. Fast alle Nationen der Erde haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen und die Welt besser zu machen. Was auf der obersten Ebene nach einer klaren Sache aussieht, splittert sich in ein unendliches Geflecht aus Unterorganisationen, Diplomatie und Protokollen auf. Und nicht zuletzt in eine Organisation mit Tausenden von Mitarbeitr*innen auf der ganzen Welt.
In Schutzzone nähert sich Nora Bossong diesem organisatorischen Ungetüm über einen ganz persönlichen Zugang. Die Erzählerin gibt kurze Schlaglichter auf Momente in ihrem Werdegang, in denen sich Politik und Persönliches schneiden und in denen immer auch der Sinn des eigenen Tuns sowie das Zweifeln an der eigenen Eignung für den Auftrag im Mittelpunkt stehen.
Was sich grundsätzlich gut anhört, hat für mich leider überhaupt nicht funktinioniert. Das liegt vor allem daran, dass die Balance zwischen Persönlichem und Politik meiner Meinung nach völlig falsch gesetzt ist. Denn natürlich ist die UN eine Organisation, die von Menschen belebt wird – so wie alle. Aber dass hier die Innensicht der Erzählerin alles dominiert und damit eine völlig uninteressante Liebesgeschichte die Sprünge zwischen Krisen- und Kriegsgebieten strukturiert, ist einfach enttäuschend. Das noch mehr, da die Protagonistin für mich derart unsympathisch und irgendwie unnahbar ist, dass ich einfach keinen Draht zum Buch aufbauen konnte und auch mit bestem Willen nicht weiter als bis zur Hälfte lesen konnte. Schade, denn Robert Menasses Roman Die Hauptstadt, der die EU in den Fokus nimmt, fand ich großartig. Das Potenzial hatte ich hier auch gesehen, es wurde aber leider überhaupt nicht erfüllt. [s]
Nora Bossong: Schutzzone | Suhrkamp | 332 Seiten | 12 Euro
Martin Lechner: Der Irrweg
Ein Heim für psychisch kranke oder beeinträchtigte Menschen. Ein Zivildienstleistender, der sich dort betätigt, um nach der Schule erstmal klarzukommen. Seine alkoholkranke Mutter, die ihn nicht loslässt. Und dann auch noch eine Bewohnerin des Heims, die ein Auge auf ihn geworfen zu haben scheint. Aber kann er ihr trauen?
Das Setting von Martin Lechners Roman Der Irrweg wirkt etwas bekannt. Aber ich dachte mir, dass Indies immer eine Chance verdienen, also ran. Leider stellte sich der Roman schnell als großer Fehlgriff für mich heraus. Gleich zu Anfang der Stil: Eine auktoriale Erzählinstanz schildert das Geschehen um Lars, den besagten Zivi, aus ironischer Distanz.
Man könnte ja erstmal wohlwollend annehmen, dass es sich um eine doppelt gebrochene Annäherung an die lange vergangenen Zeiten des Zivildienstes handelt. Eine Zeit auch, in der man noch ohne größere Probleme weit über den eigenen Figuren schwebend ironisch erzählen konnte. Leider weit gefehlt, Ironie und Witz sind ungebrochen und schrecken auch – was noch schwerer wiegt – kaum davor zurück, sich über die geschilderten Menschen lustig zu machen. Das ist nicht der Kern des Buchs, schillert aber in vielen Wendungen und »lustigen« Formulierungen immer wieder durch. Der simple und vorhersehbare Plot tut sein Übriges, daher war nach 100 Seiten Schluss mit dem Irrweg. Allein die Szenen, in denen Lars sich mit seiner alkoholkranken Mutter auseinandersetzt, waren einigermaßen interessant. Leider zu wenig. [s]
Martin Lechner: Der Irrweg | Residenz Verlag | 272 Seiten | 24 Euro
Margaux de Weck: Ein verlängertes Wochenende
In einer sehr kurzen Corona-Variation der Recherche lässt Margaux de Weck ihre Protagonistin ins ferne Metz entschwinden. Beim isolationsbedingten Aufräumen alter Papierberge fällt ihr ein Zugticket in die Hände, das zu einem Treffen mit dem damaligen noch nicht ganz Liebhaber führen sollte – aber es nie tat. Aus der Erfahrung der Isolation heraus sinnt sich die Erzählerin heraus in die unbekannte Stadt und sucht darin nach Aufregung, Spannung und Reizen, die in der Realität gerade einfach nicht vorhanden sind.
Gekonnt wird die triste Gegenwart gegen das Metz-in-Gedanken konstruiert. Werden Probleme mit dem Kind und der Beziehung gegen die Gedanken einer Vergangenheit ausgespielt, die so andere Wege hätte einschlagen können. Ein verlängertes Wochenende begibt sich nicht in die Falle, eine Vergangenheit, die es nie gab, zu verklären – Nostalgie ist hier nicht der Punkt. Es geht um das lustvolle Ausloten von Möglichkeiten, die die Protagonistin wissentlich hat liegen lassen. So ist der Text kein Sehnen nach Anderem, kein Bereuen, kein Schmerz an der Gegenwart, sondern vielmehr eine Lustreise in die Welt der Möglichkeiten. Hier schreibt sich nicht nur die Corona-Pandemie weiter in die Literatur ein, sondern exemplifiziert der Text auch unaufgeregt und in sicheren Sätzen eine Tugend der Isolationserfahrung: die innere Reise. [s]
Margaux de Weck: Ein verlängertes Wochenende | Das Gramm #5 | 23 Seiten | Abo für 24 Euro im Jahr