Der Star der klassismuskritischen Miniaturen ist wieder da: In Die Freiheit einer Frau wendet sich Édouard Louis seiner Mutter zu und erzählt höchst intim ihre Geschichte.
Ein Leben kann in der Rückschau wie vorgezeichnet wirken. Für Monique Bellegueule könnte es ziemlich so wirken. Geburt, Taufe, Schule, Heirat, Kinder, Tod. Gut, sie heiratet zweimal, ersetzt den ersten gewalttätigen Mann durch einen zweiten, der trotz anfänglicher Zärtlichkeit nicht weniger zum gewaltbereiten Trinker wird, zerfressen von seinem eigenen Schicksal in Armut. Doch am Ende ist sie eine Frau, die einen ziemlich typischen Weg für eine Frau ihrer Klasse geht.
Wäre da nicht eine zweite Trennung. Denn Monique trennt sich auch von ihrem zweiten Mann, um ein drittes Mal neu anzufangen. Und tatsächlich, dieser dritte Versuch soll sich als Erfolg herausstellen. Sie gerät an einen Mann, der kein Trinker, kein gewalttätiger Versager ist. So findet sie nach Jahren der Demütigung, der Machtlosigkeit und auch des Missbrauchs ein Leben, das lebenswert erscheint. Natürlich gibt es auch Nachteile, da sie in die Mittelklasse nach Paris kommt. Solche Klassenaufstiege sind in Frankreich noch schwieriger als in Deutschland. Aber das Glück lässt sich fassen.
Als ich dieses Bild sah, spürte ich, wie die Sprache aus mir verschwand. Sie frei zu sehen, mit ganzem Körper in die Zukunft projiziert, rief meine Erinnerung an ihre mit meinem Vater geteilten Lebensjahre wach, die von ihm ausgegangenen Demütigungen, die Armut, zwanzig Jahre ihres Lebens versehrt und fast zerstört durch die männliche Gewalt und das Elend, zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahren, in dem Alter, in dem andere das Leben ausprobieren, die Freiheit, Reisen, sich selbst kennenlernen.
Édouard Louis’ viertes Buch wendet sich nach seiner eigenen Jugend in Das Ende von Eddy und Im Herzen der Gewalt, seinem Vater in Wer hat meinen Vater umgebracht nun eben seiner Mutter zu. Gewohnt schonungslos zeichnet er das Bild einer Frau aus der Unterklasse, die den ihren vorgezeichneten Weg geht, bis sie doch irgendwie aus dem Korsett des Determinismus ausbrechen kann. Wie gewohnt schafft Louis es, in äußerst knapper Form ein drastisches Bild zu zeichnen, das schockiert, aber auch berührt, und sich dabei einer der schwächsten Gruppen in unserer westlichen Gesellschaft zuzuwenden.
Gleichzeitig ist dieses Buch deutlich gefühlvoller als die Vorgänger, die sich zwar durch großes Mitgefühl aufgrund der undurchdringlichen Umstände seiner Figuren auszeichnen, aber doch immer auch eine große Härte gerade dem Vater, aber auch der Mutter gegenüber zeigen. Hier wendet sich Louis seiner Mutter in höchster Anerkennung, geradezu Bewunderung dafür zu, dass sie die Flucht aus ihrem Leben mit seinem Vater geschafft hat.
Vielleicht auch gerade deshalb, weil sie dadurch ebenso wie Louis selbst zu einer Klassenaufsteigerin wurde und die beiden damit einen bedeutenden Zug ihres gegenwärtigen Wesens teilen. So geht es – wie immer in solchen memoirartigen Essays – neben der Mutter eben auch immer sehr viel um den Schreibenden selbst, der auch sich selbst in seiner Anerkennung der Mutter ins rechte Licht zu rücken weiß. Das mag manchen unangenehm aufstoßen, für mich hielt sich das aber in Grenzen und war vollkommen okay.
Die Freiheit einer Frau ist wieder ein starkes, kurzes Buch, das in doppeltem Sinne aufwühlt. Emotional erzählt es aus einem Leben in Armut, aus der französischen Provinz, und von der Flucht aus diesen Umständen. Gleichzeitig beleuchtet es das Leben eines großen Teils unserer westlichen Kultur, das nur allzu gern vergessen oder unsichtbar gemacht wird. Es ist ein schmerzlicher Appell für einen gerechten Umgang mit der gesamten Gesellschaft, für Chancengleichheit und soziale Mobilität.
Édouard Louis
Die Freiheit einer Frau
S. Fischer
96 Seiten | 17 Euro
Erschienen im November 2021