[wortmeldungen 2022] Theresia Enzensberger: Auf dem Berg des magischen Denkens

Wir begleiten in diesem Jahr den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis und stellen euch nach und nach alle Shortlist-Texte und ihre Autor*innen vor. Den Anfang macht Theresia Enzensberger mit ihrem Text Auf dem Berg des magischen Denkens, der in einem »didionesken« Essay an die Geburtsstätte des Neoliberalismus führt.

Erstmal vorweg: Mit großer Freude begleiten wir in diesem Jahr den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis. Wir werden hier auf dem Blog die fünf Shortlist-Texte vorstellen und kleine Interviews mit den Autor*innen beisteuern, um den in ihnen behandelten Themen noch mehr Raum zu geben. Denn darum geht es ja: die literarischen Mittel wie auch immer gearteter Prosa zu nutzen, um gesellschaftlich relevante Themen sichtbar zu machen. Alle Texte sind schon jetzt auf der WORTMELDUNGEN-Homepage nachzulesen. Und damit keine Verwechslungen aufkommen: Wir begleiten den Literaturpreis, für den bereits etablierte Autor*innen nominiert werden können. Das Hauptkriterium neben bereits vorhandenen Veröffentlichungen ist die gesellschaftliche Relevanz des Textes. Damit unterscheidet sich der Literaturpreis vom ebenfalls vergebenen WORTMELDUNGEN-Förderpreis, für den der*die WORTMELDUNGEN-Literaturpreis-Gewinner*in ein Thema vorgibt.

Nun aber zum Text. Theresia Enzensberger begibt sich in ihrem Essay Auf dem Berg des magischen Denkens an die Ursprünge des Neoliberalismus – und zwar ganz konkret an den Ort, an dem das Programm, wie wir es heute kennen, ausgehandelt wurde: ins »Pelerin Palace« im verschlafenen Schweizer Örtchen Mont-Pélerin, das früher das »Hotel du Parc« war. Wo sich 1947 die Mont Pélerin Society gründete, um das Programm des Neoliberalismus zu diskutieren und in die Welt hinauszutragen, steht mit dem »Pelerin Palace« heute ein Apartmentkomplex, der die Geschichte der letzten gut 75 Jahre ins Mauerwerk aufgesogen hat. Und nicht nur das – ganz nebenbei verkörpert der Bau auch die ökonomische Entwicklung von der Nachkriegszeit hin zu zu einer Welt von Plattformkapitalismus, Globalisierung und einer immer weiter aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich wunderbar.

Mit den klassischen, nicht nur im Titel an Joan Didion angelehnten Mitteln des Essays nähert sich der Text seinem Gegenstand immer wechselnd in Gegenwart und Vergangenheit. Dieses Wechselspiel verleiht ihm Lebendigkeit und Dynamik, macht ihn persönlich, nahbar, und trotzdem reflektiert und geschichtsträchtig, wie es bei einem guten Essay – nicht nur bei Didion – sein sollte. Die Anfänge des Neoliberalismus werden durch durch die Kontrastfolie des »Hotel du Parc«/»Pelerin Palace« zu einem plastischen Ereignis, das nicht nur in den Wänden des Hotels immer noch nachwirkt.

Auf dem Berg des magischen Denkens spinnt zwischen den Zeilen den Faden von den Treffen der Wirtschaftswissenschaftler und -politiker Ende der 1940er Jahre bis in ein Heute, in dem sich die klassischen Strukturen nationaler Wirtschaften größtenteils aufgelöst haben. In dem multinationale Konzerne überforderten Nationalstaaten ihre Politik diktieren, immer einen Schritt voraus sind und sich regionale Eigenheiten immer mehr zugunsten eines globalen Mainstreams auflösen. Ob Friedrich von Hayek das hat kommen sehen? Spekulation. Keine Spekulation dagegen das Fehlen von Gendersternchen in diesem Absatz: Die einzige anwesende Frau beim Gründungstermin war Dorothy Hoover. Als Protokollantin.

Hier könnt ihr den Essay von Theresia Enzensberger nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.


Theresia Enzensberger
© Rosanna Graf

Du behandelst in deinem Essay ein sehr rechercheintensives Thema – wie bist du darauf gekommen, nach den Ursprüngen der »Mont Pelerin Society« zu suchen?

Bei der Recherche zu meinem neuen Roman bin ich auf einen Artikel gestoßen, in dem der Neoliberalismus als erste »fully realized utopia« bezeichnet wird. Das hat mich interessiert. Tatsächlich sieht man die Auswüchse dieser Ideen ja überall in unserer Gesellschaft: In politischen Strukturen, in der Digitalisierung, im Sprechen von »Eigenverantwortung«, und nicht zuletzt im Gesundheits- und Bildungssystem, wie uns die Pandemie noch einmal eindrücklich vor Augen gehalten hat.  

Aber sobald man sich mit diesem Thema beschäftigt, fällt einem auf, wie umstritten der Begriff, wie verworren die Geschichte dieser Ideen eigentlich ist. Deswegen wollte ich zurück an den Anfang. Dass sich durch den Ort, durch dieses Hotel, in dem die »Mont Pelerin Society« gegründet wurde, dann so eine irre Kontinuität entspinnt, das hatte ich vorher natürlich nicht geahnt. 

Wie hat die Auseinandersetzung mit den Ursprüngen des Neoliberalismus deinen Blick auf diesen verändert?

Mir ist klargeworden, wie umkämpft nicht nur der Begriff, sondern auch der tatsächliche Werdegang der Ideengeschichte ist. Ich habe mich oft gefragt, wie der Objektivitätsanspruch, der ja dahinter steckt, wenn man dem Markt den Status eines Ordnungsprinzips zugesteht, zu der Emotionalität passt, mit der die Anhänger des Neoliberalismus ihn verteidigen. Mittlerweile glaube ich, dass der Markt in diesem Denken eine fast metaphysische Qualität hat – er wird als eine Art Naturgesetz für das Zusammenleben der Menschen gesehen. 

Inwiefern taugt das Gebäude des Hotels als Symbol für heutige Machtverhältnisse?

Wirtschaftspolitik, Steuerhinterziehung, Korruption, Wirtschaftskrisen … Wenn darüber etwas in der Zeitung steht, blättern die meisten Menschen, die nicht direkt betroffen sind, einfach weiter. Investigativgeschichten über Firmengeflechte und Steueroasen, wie zum Beispiel über CumEx und die Panama Papers, sind unglaublich wichtig, aber sie bekommen selten die Aufmerksamkeit, die ihnen zusteht. Ich glaube, das liegt nicht daran, dass das den Menschen alles egal ist. Dahinter steckt ja meist eine gewaltige Machtausübung, die uns durchaus auch konkret betrifft. Aber den meisten dieser Geschichten fehlt es an Protagonist*innen, die Opfer neoliberaler Politik bleiben eine identitätslose Masse. Einen Ort, ein Gebäude zu finden, an dem so viele Stränge zusammenlaufen, war für mich eine Art, die Geschichte zu konkretisieren, zu verbildlichen. 

Wie hast du ganz persönlich deinen Besuch im Pelerin Palace erlebt? Hand auf’s Herz: Warst du froh, als du dort wieder weg konntest?

Ja! Nicht nur ist das ein extrem seelenloser Ort, er ist ja auch ganz schön isoliert. Ich hatte kein Auto, deswegen musste ich die Seilbahn nehmen und vorher in Vevey Essen für drei Tage einkaufen. Von der Seilbahn geht es dann noch einmal zu Fuß zehn Minuten bergauf. Als ich schwitzend und fluchend mit einer Tasche voll Dosentomaten und Spaghetti den Hang hochgestapft bin, musste ich schon lachen – die anderen Gäste kommen wahrscheinlich mit dem Hubschrauber und bringen ihren Koch oder ihre Köchin mit.  

Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?

Ich denke, wenn es einem um die größtmögliche gesellschaftspolitische Wirkung geht, ist man wahrscheinlich im Aktivismus oder in der Politik selbst besser aufgehoben. Im Gegensatz zum Meinungstext ist aber ein Vorzug der Literatur, dass man keine Schlussfolgerung ziehen muss. Man kann mehrere Schichten eines Problems freilegen, ohne die Lösung zu präsentieren; man kann Geschichten erzählen, die politischen Inhalt haben, ohne einer bestimmten Argumentationslogik zu folgen. 

Vielen Dank für das Interview, liebe Theresia.

Theresia Enzensberger hat Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York studiert und schreibt als freie Autorin unter anderem für die FAZ, FAS, Monopol, ZEIT Online und ZEIT. 2014 gründete sie das BLOCK Magazin, das 2016 bei den Lead Awards als bestes Newcomer-Magazin ausgezeichnet wurde. 2017 erschien ihr erster Roman Blaupause beim Hanser Verlag. Er wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.


Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.


WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

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