Heute komplettieren wir die Shortlist zum WORTMELDUNGEN-Literaturpreis für kritische Kurztexte, den wir dieses Jahr begleiten, mit unserer Vorstellung des fünften Textes: Der unsichtbare Hafen von Deniz Utlu.
Häfen sind wirtschaftlich gesehen Orte des Umschlags, Knotenpunkte, an denen Lieferketten vom Wasser auf das Land, auf Straßen oder Schienen wechseln. Riesige Industrieflächen, Container und Kräne zeugen von dieser Funktion. Häfen symbolisieren für die Menschen jedoch noch viel mehr als das. Seit dem Beginn der Schifffahrt stehen sie für Hoffnung auf Neues, für das Ankommen an einem neuen Ort, einem neuen Leben vielleicht. Gleichzeitig aber auch für Abschiede und eine ungewisse Zukunft.
Der unsichtbare Hafen von Deniz Utlu führt uns als Leser*innen an der Seite des Autors in den Hamburger Hafen. Der Text beschreibt die Suche Utlus nach dem Ort, an dem sein Vater vor vielen Jahren zum ersten Mal deutschen Boden betreten haben mag, um ein neues Leben zu beginnen. Das Leben, dessen Teil der Autor dann später wurde und das abgekoppelt ist von allem, was vor dieser Ankunft in Hamburg lag.
Der Hafen gibt sich zunächst schroff, zeigt seine funktionale Seite, die in erster Linie von Verboten geprägt ist. Überall sind Zäune, Tore, Hafenarbeiter, die den Autor wegschicken, wenn er auf das Gelände fährt. Ihn ignorieren, wenn er ein Gespräch anfangen möchte. Nur langsam gelingt es ihm, in einen historischen Teil des Hafens vorzudringen, der eher dem entspricht, was er sich als Ort der Ankunft vorstellt. Und doch ist immer klar, dass gerade dieser Ort sich nicht finden lassen wird.
Utlus Text zielt auf die Unsichtbarkeit dieses Hafens, in dem die Erinnerung, die ganz persönliche Bedeutung des Ankommens in einem Land, einem neuen Leben liegt. Dabei geht es ganz explizit nicht um ein Gefühl von Heimat oder kulturelle Zugehörigkeit – all diese Aspekte werden in dem Text komplett ausgespart. Es geht vielmehr um die tastende Befragung der Gegenwart nach den Spuren der Vergangenheit, nach Artefakten, ja einfachen Zeichen, die uns das Verständnis der Vergangenheit im Allgemeinen, der eigenen Familiengeschichte im Besonderen erleichtern könnten. Die etwas Licht in ein unauslöschliches Dunkel werfen könnten – aller Unmöglichkeit zum Trotz. Ein sehr emotionaler Essay, der stimmungsvoll und trotzdem reflektiert die Fragilität der eigenen Identität ins Zentrum nimmt.
Hier könnt ihr den Essay von Deniz Utlu nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir dem Autor ein paar Fragen gestellt.
Du beschreibst in deinem Text die Suche nach dem Ort, an dem dein Vater zum ersten Mal deutschen Boden betreten hat – was können uns solche Orte über uns selbst und unsere Geschichte sagen?
Den Ort, an dem mein Vater in diesem Land angekommen ist, gibt es nicht mehr. Natürlich existiert der Hamburger Hafen noch, aber er ist ein anderer als im Jahr 1962. Der Soziologe Paul Gilroy hat das Konzept der Postkolonialen Melancholie in die Soziologie eingeführt. Neben der kollektiven Traurigkeit auf der Seite Privilegierter aufgrund eines Machtverlusts nach dem Fall des Empires, beschreibt er auch eine Melancholie aus der Perspektive Marginalisierter: Afro-Amerikaner:innen, die auf der Suche nach ihren Wurzeln in die Regionen reisen, aus denen ihre Vorfahren stammen und damit umgehen müssen, dass sie nur ein braches Feld vorfinden, wo einmal vielleicht das Dorf ihrer Ururgroßeltern lag. Oder nur einen Felsen, wo die Sklavenhandelsschiffe einst abfuhren. Der Hamburger Hafen liegt im Zentrum, nicht in der Peripherie von Herrschaftsstrukturen. Es existiert ein Hafenmuseum und ein historischer Hafen. Eine Geschichte wird erzählt. Sie soll erinnert werden. Aber die Geschichte der Arbeiter:innen lesen wir dort nicht nach. Die unerzählten Geschichten sind die Subtexte des großen Narrativs von Handel, Macht und Bedeutung. Und vielleicht heißt Schreiben manchmal ein Gehör für die Subtexte zu schulen und sie in den Erzählungen erklingen zu lassen.
Was war der Grund, dich gerade in diesem Moment auf die Suche nach dem »unsichtbaren Hafen« zu begeben?
Ich habe mich nicht auf die Suche nach dem Hafen begeben, sondern nach meinem Vater. In meinen Erinnerungen habe ich nach ihm gesucht und auch in der Fiktion, also in Geschichten, die ich für ihn erfunden habe. Der Zufall brachte mich an die Elbe. Erst nachdem ich tagelang in den Schreibpausen am Ufer gesessen und auf die Frachtschiffe geschaut hatte, wurde mir klar, dass genau dieser Fluss, der eine Wasserstraße vom offenen Meer nach Hamburg war, meinen Vater nach Deutschland brachte. Zwanzig Jahre vor meiner Geburt. Meine Mutter schickte mir ein Foto seines damaligen Passes. Da war ein Stempel vom 18. Dezember 1962, Hamburger Hafen. Am 18. Dezember in Elbnähe konnte ich nicht anders als in den Wagen zu steigen und mehr als ein halbes Jahrhundert später der Geschichte meines Vaters entgegenzufahren. Aber es existiert keine private Geschichte außerhalb eines politischen Rahmens. Jedes Erzählen wird dadurch, gewollt oder nicht, auch ein Erzählen der Verhältnisse.
Welche Erwartungen hattest du an deine Erkundung, und wurden sie erfüllt?
Ich hatte keine Erwartungen, denn ich glaubte nicht so richtig, dass es dort wirklich etwas zu entdecken gab über meinen Vater. Dem entsprechend groß war die Überraschung über das Gefühl, das sich dort einstellte. Die Zeit hob sich auf. Das Licht wies mir den Weg. Jede Begegnung war eine im Ewigkeitsraum der Geschichte. Ich hatte nur für eine Stunde zum Hafen fahren wollen, verbrachte aber den ganzen Tag dort. Kehrte erst spät zurück. Und während ich tiefer in die Nacht fuhr, beschleunigten die Bilder und Reflexionen in mir ihre Abfolge. Ich hatte das Gefühl, schnell in das Haus in Elbnähe zurückzumüssen, um eine Form für meine Gedanken zu finden.
Der Hafen ist ein Ort des Ankommens, aber auch des Abschieds und steht oftmals in Verbindung mit dem Konstrukt »Heimat« – inwiefern geht es in deinem Text auch unterschwellig um diesen Begriff?
Der Hafen ist vor allem auch ein Symbol des Handels, dadurch der Globalisierung, aber eben auch der Weltoffenheit. Ich denke auch an Unterschwelliges, an Schmuggel und Ausbeutung. Abenteuer und harte Arbeit. Diese Begriffe setzen den Rahmen des Ankommens und Abschieds im Kontext des Hafens viel mehr als der der Heimat – also eher Bewegung als Statik. Daher – und nicht, weil ich ihn falsch finde – spreche ich in dem Text nicht von Heimat; der Begriff ist einfach wenig produktiv bezogen auf Herkunft und Lebensort. In einem literarischen Text kann ein Begriff aber nicht einfach weggelassen werden, indem er nicht verwendet wird. Die Tatsache, dass die Reise meines Vaters im Hamburger Hafen endet und der Erzähler, sein Sohn, in deutscher Sprache, rund sechzig Jahre später diesen Text schreibt, ist konnotiert mit der Idee der Heimat. Gerade durch die Abwesenheit des Begriffs selbst, wo doch die Konnotationen gegeben sind, kann er sich vielleicht von der diskursiven Aufladung in der Gegenwart etwas beruhigen.
Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?
Dadurch, dass Literatur nichts Gesellschaftspolitisches bewirken muss, es vielleicht auch gar nicht kann, entfaltet sie paradoxerweise eine politische Kraft. Im Unzweckmäßigen, könnte man sagen, liegt ihr Zweck. So schafft sie einen Freiraum (des Denkens und Empfindens), der unter institutionellen, aber auch aktivistischen Bedingungen aufgrund von Konformität oder eben Zielhaftigkeit häufig eingeengt ist. Da Literatur im gesellschaftspolitischen Klima ihrer Zeit entsteht, spielt die Sprache, die sich in ihrem Freiraum herausbildet in die Gesellschaft zurück, speist sich sozusagen ein in die Meta-Erzählungen. Aber indem sich unsere Geschichten über uns selbst verändern, wandelt sich auch das Leben.
Vielen Dank für das Interview, lieber Deniz.
Deniz Utlu lebt in Berlin. Er studierte Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin sowie an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne. 2014 veröffentlichte er seinen ersten Roman Die Ungehaltenen, der 2015 am Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert wurde. 2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen beim Suhrkamp Verlag. Seine Essays wurden im Feuilleton (FAZ, SZ, Tagesspiegel, Der Spiegel, Der Freitag) und in Anthologien veröffentlicht (zuletzt: Eure Heimat ist unser Albtraum; Wir. Gestern. Heute. Hier). Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Außerdem kuratiert er die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse am Maxim Gorki Theater. Zuletzt erhielt er den Alfred-Döblin-Preis 2021.
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.