Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier

Das niederländische Hinterland, ein Tierarzt, die Tochter eines Bauern und eine gefährliche Liaison. Auch im neuen Roman Mein kleines Prachttier von Marieke Lucas Rijneveld geht es wieder abgründig zu.

Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier (Cover)

Was man sät, der Debütroman von Marieke Lucas Rijneveld, gehört zu den besten Büchern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Logisch, dass ich auch Rijnevelds zweiten Roman Mein kleines Prachttier unbedingt lesen musste. Wie auch das Erstlingswerk wurde dieses wieder von Helga van Beuningen übersetzt und zwar – das muss hier gleich zu Beginn erwähnt werden – erneut auf großartige Art und Weise.

Das Setting in Mein kleines Prachttier ist ähnlich wie in Rijnevelds Debütroman: Wir befinden uns in der niederländischen Provinz inmitten von familiengeführten Bauernhöfen, die Einöde trägt den Namen The Village. Das Wahren des Scheins wird groß geschrieben, ebenso wie konservative Glaubenssätze. Inmitten dieser eher rückwärtsgewandt wirkenden Gemeinschaft arbeitet der 49-jährige Tierarzt Kurt, der für die medizinische Versorgung der Kühe auf den umliegenden Höfen zuständig ist.

Als Ich-Erzähler der Geschichte nimmt Kurt uns mit in seine Gedankenwelt und auf die Bauernhöfe. Vor allem aber auf den einen Hof, dessen Besitzer eine 14-jährige Tochter hat, in die Kurt sich eines Sommers verliebt. Kämpft der verheiratete Vater zweier Söhne anfangs noch gegen diese verbotene Liebe an – was eindrücklich anhand innerer Monologe beschrieben wird –, so gibt er sich schlussendlich doch seinen Gefühlen hin und beginnt eine moralisch fragwürdige Liaison mit der Bauerntochter, oder wie Kurt sie nennt: seinem »Prachttier« und »Augenstern«. Was das Mädchen denkt, können wir nur erahnen, denn wir befinden uns ja komplett im Kopf des Verführers. Aber es scheint, dass sie sich auf Kurt einlässt, sich mit ihm wegträumt aus der Einöde und doch vielleicht nicht so recht weiß, was sie da gerade tut.

Wie in Rijnevelds erstem Roman wird auch in Mein kleines Prachttier deutlich, dass wir uns hier in einer Gegend befinden, in der Aufklärung jeglicher Art für Kinder und Jugendliche nicht vorgesehen ist. Kurt scheint das auszunutzen, spielt mit der Naivität der Bauerntochter, flüchtet sich gemeinsam mit ihr in Fantasiewelten und nötigt sie immer wieder zu sexuellen Handlungen, bis er sie schließlich auch vergewaltigt. (Meiner Meinung nach hätte es zu Beginn des Romans eine Triggerwarnung gebraucht, denn diese Szenen werden sehr plastisch dargestellt.)

Keine Entschuldigung, aber doch eine Art Erklärungsansatz: Auch Kurt wurde Opfer sexuellen Missbrauchs in frühester Kindheit und wird seit jeher von einem Trauma geplagt. Ob er die damaligen Geschehnisse einordnen oder mit seinem eigenen Verhalten in Verbindung bringen kann, wird nicht ersichtlich. Doch eine der niederschmetternden Kernaussagen dieses Romans ist wohl, dass sich Missbrauch und Gewalt in Gegenden wie The Village von Generation zu Generation weitertragen.

Die pädophilen Gedanken von Kurt konnte ich stellenweise echt nur sehr schwer aushalten. Durch die Erzählperspektive unausweichlich über 364 Seiten hinweg im Kopf dieses Menschen gefangen zu sein, war an der Grenze des Ertragbaren. Aber genau hierin liegt auch die Stärke des Romans. Rijneveld und van Beuningen schaffen es abermals, das Abgründige hochliterarisch zu verpacken. Mein kleines Prachttier ist ein einziger Gedankenstrom des Ich-Erzählers, einige Sätze erstrecken sich über mehrere Buchseiten hinweg. Immer wieder wird ein Du, das »kleine Prachttier«, angesprochen. Was zunächst gewöhnungsbedürftig war beim Lesen, entwickelte von Seite zu Seite einen immer stärker werdenden Sog, der mich zeitweise so mitgenommen hat, dass ich das Buch nicht vorm Einschlafen lesen konnte. Es hat also was mit mir gemacht, und das ist für mich eines von vielen Merkmalen guter Literatur, seien die Reaktionen noch so erschütternd.

Leider hatte Rijnevelds zweites Buch auch ein paar Längen, einige Gedankenschleifen Kurts hätten meiner Meinung nach nicht sein müssen, wirkten redundant. Nichtsdestotrotz ist Mein kleines Prachttier ein weiterer großer Wurf Rijnevelds und ein würdiger Nachfolger von Was man sät. Ich freue mich schon auf Marieke Lucas Rijnevelds nächsten Roman und bin gespannt, in welchen Abgrund dieser mich hinabziehen wird.

Marieke Lucas Rijneveld

Mein kleines Prachttier
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Suhrkamp

364 Seiten | 24 Euro

Erschienen im September 2021

Kategorie Blog, Rezensionen

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

3 Kommentare

  1. Vielen Dank für deine Besprechung. Nach dem Debüt von Rijneveld, den ich schon verstörend fand, dachte ich nach dem Lesen deiner Besprechung und des Kommentars von ‹Letteratura› schon, puuh. Nun kam es, dass mich mein Feedreader zu einer Besprechung führte, zu einer norwegischen Autorin, die sonst in meinen Feeds noch nicht auftauschte: Maria Kjos Fonn mit ‹Heroin Chic› [https://leseschatz.com/2022/04/11/maria-kjos-fonn-heroin-chic/] und dem Verweis auf den Vorgänger ‹Kinderwhore› [https://leseschatz.com/2019/09/23/maria-kjos-fonn-kinderwhore/] der Missbrauch aus der kindlichen Opferperspektive beschreibt. Meine Recherche während des morgendlichen Rituals führte via Twitter zu einem Thread [https://twitter.com/schlimmehelena/status/1457981484598444034?s=21], der Rijneveld und Kjos Fonn zusammenbrachte. Lange Rede, kurzer Sinn, ich habe mir nun beide Bücher bestellt und werde sie zusammen lesen und im Anschluss vermutlich die Gummibärenbande bingen um den Kopf frei zu bekommen. Mal sehen. Alles Gute und liebe Grüße aus Amsterdam!

  2. letteratura

    Ich habe es schon vor Wochen angefangen, aber ich schaff immer nur ein Kapitel oder so, irgendwie ist mir das grad zu… deprimierend? Dabei habe ich das Debüt auch sehr geliebt… mal gucken, ob ich es noch „schaffe“…

    • Ich fand dieses Buch auch wesentlich herausfordernder als Rijnevelds Debüt und kann auch gut verstehen, wenn man es nicht am Stück durchliest. Sprachlich als auch thematisch eine ganz schöne Wucht.

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