Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger)

Die Formen des Begehrens sind vielfältig. In Rot (Hunger) stellt Senthuran Varatharajah sehr poetisch zwei Geschichten zusammen, die man nie zusammen sehen würde – außer in der Klammer des Begehrens zweier Körper.

Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger)

Es gibt so Themen, da fragt man sich wirklich, wie man sich ihnen nähern soll. Oder warum man sie sich aussucht – aber dazu vielleicht später mehr. In jedem Fall schreibt Senthuran Varatharajah in seinem neuen Roman – auch zur Gattung später mehr – Rot (Hunger) in einem der beiden Stränge über den Kannibalen von Rotenburg, Armin Meiwes, und Bernd Jürgen Brandes, den Armin Meiwes töten und teilweise essen wird – mit gegenseitigem Konsens, wenn man so will.

Ich schreibe hier ziemlich locker und irgendwie lustig darüber, was einfach nur zeigt, wie unwohl mir bei dem Thema wird. Es treibt mir die Kälte durchs Rückenmark, wenn ich an Meiwes und Brandes denke, daran denke, wie die beiden zusammen die letzten Tage von Brandes Leben verbringen. Kannibalismus ist eins der heftigsten Tabu-Themen, die es gegenwärtig so gibt. In der Sache wohl zu recht, denke ich, auch wenn das Töten und Essen von sowie Experimentieren an lebenden, den Menschen zum Teil gar nicht mal so unähnlichen Tieren ja gesamtgesellschaftlich eher wenig problematisch scheinen.

Vielleicht war es dieser Umstand, diese große, hochemotionale Dunkelheit, die das Thema umgibt, was Senthuran Varatharajah dazu getrieben hat, daraus den Stoff für seinen Roman zu machen. Und um es gleich vorwegzunehmen: In Rot (Hunger) geht es nicht um Voyeurismus, geht es nicht um ein Nachstellen der Szenen, ein Nachspielen, Nachempfinden oder gar Ausschlachten der bereits oft verfilmten Geschichte. Es geht vielmehr darum, zu erkunden, was das als unnatürlich empfundene Begehren von Meiwes und Brandes mit dem »normalen« Begehren der meisten Menschen verbindet. Also mit dem, was wir Liebe, Anziehung, sexuell oder intellektuell, nennen.

Dazu verbindet Rot (Hunger) zwei Stränge, die abwechselnd erzählt werden. Zum einen ist dies ein autobiografischer oder auch autofiktionaler – ist ja auch egal – Strang, der in unzusammenhängenden Szenen die Geschichte einer Liebe und Trennung erzählt. Der Strang beleuchtet dabei vor allem Momente, in denen die Liebe zu einer anderen Person besonders groß aufscheint, oder aber Momente, die weniger von Liebe als vielmehr von rein körperlichem Begehren sprechen. Beide werden aber nicht gewertet, sie stehen gleichbedeutend nebeneinander.

Dazu gesellt sich dann der Strang um Meiwes und Brandes. Dieser Strang geht besonders unter die Haut, da er zu größeren Teilen aus Zitaten zusammengesetzt ist, die direkt aus Chatverläufen, Briefen und ähnlichen Zeugnissen der Beziehung der beiden zueinander stammen. Dabei ist bemerkenswert, wie sehr jedes Wort eine andere, abgründigere Bedeutung einfach dadurch bekommt, dass man weiß – und am Ende auch sehr genau vor Augen geführt bekommt –, wohin die Beziehung führen wird. Dabei ist die Zärtlichkeit, die beide füreinander empfinden, kaum von der zu unterscheiden, die den anderen Strang durchzieht.

B steht an der Beifahrertür des Lancias. Die Tüte: in seiner rechten Hand. Er sieht zwei Nadeln auf der Motorhaube, über einem dünnen Streifen Licht, der an ihr hängt, an einer Stelle, bevor er den Bereich des Knüllgebirges erkennt, hinter der Straße, über die sie gekommen sind, und dem leeren Feld, weil ich meine Hände nicht mehr brauchen werde. Es ist hell; hell genug. A öffnet die Schachtel. Am Ende der Sprache gibt es keinen Unterschied zwischen einem Körper und einem Vers. 11:35 Uhr.

Damit haben wir die Klammer, das Wesen des Textes erreicht – von einem Roman möchte ich eigentlich nicht wirklich sprechen, da der Text kaum plotgetrieben und größtenteils eher lyrisch-atmosphärisch gearbeitet ist. Rot (Hunger) ist wie eine exemplarische Abhandlung der Sprache des Begehrens. Würde ich Lacan oder Nancy wirklich kennen und verstehen, könnte ich jetzt hier mit tollen Zitaten aufwarten. Leider kenne ich sie nur als Zitate zu anderen Texten, daher muss das hier ausbleiben. Das tut aber auch nichts zur Sache, denn schon lange hat mich ein Buch nicht mehr so berührt wie Rot (Hunger). Das ist keinesfalls immer angenehm, teilweise habe ich vor Anspannung im Bett gestanden und konnte kaum weiterlesen. Aber gerade das ist für mich eine Qualität, die nur wenige Texte erreichen.

Rot (Hunger) geht unter die Haut wie kaum ein anderes Buch. Vor allem nicht in einem so lyrischen, zurückgenommenen Ton. Es ist damit definitiv nichts für jede*n, aber wer sich herausfordern und auf die Suche nach der sprachlichen Verfasstheit des Begehrens machen möchte, der*die ist hier bestens aufgehoben. Einfach krass, ich kann es nicht anders ausdrücken.

Senthuran Varatharajah

Rot (Hunger)

S. Fischer

120 Seiten | 23 Euro

Erschienen im Februar 2022

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Okay, DAS klingt schon wieder so abgedreht und herausfordernd und thematisch anziehend (ich meine der Kannibale von Rotenburg, das ist voll meins), dass ich das mal auf meine Wunschliste setze.

    • Ist in allen Belangen speziell, und ich finde auf sehr gute Weise. Aber auch richtig hart, konnte manchmal fast nicht weiterlesen, weil ich so angespannt war.

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