Von Utopien und Sekten: Auf See von Theresia Enzensberger wandelt zwischen künstlichen Inseln und austrocknendem Land und zeigt eine haltlose Familie in einer den Halt verlierenden Welt.
Gletscher um Gletscher stirbt schon heute. Es beginnt mit kleineren, die Alpen werden den Großteil ihrer jahrtausendealten Gletscher schon bald verloren haben und dafür zumindest temporär hunderte neue Seen bekommen – denen aber dann wohl das gleiche Schicksal wie den älteren Gewässern winkt, nämlich langsam aber sicher auszutrocknen. Parallel zur Verwüstung des Landes steigt der Meeresspiegel. Also liegt die Zukunft der Menschen auf dem Wasser?
Schon der legendäre Flop Water World mit Kevin Costner hat ein solches Szenario entworfen. Die Geschichte von Atlantis ist zwar aus ganz anderen Gründen entstanden, gehört aber nicht nur zum Grundstock frühester Utopien, sondern auch weiterhin zu den sagenumwobenen Fantasien, die jede*r kennt und mit denen jede*r etwas verbinden kann. Eine Stadt unter dem Meer, lange verloren, aber vielleicht doch noch existent?
Aus solchen und einer Vielzahl anderer Quellen speist sich Auf See von Theresia Enzensberger. Der Roman trägt durchaus dystopische Züge, beschränkt sich aber nicht darauf, durch eine kleine Geschichte eine Vision unserer Welt in einer dunklen Zukunft zu skizzieren. Vielmehr versucht sich der Roman an einer Reflexion über das Wesen von Utopien und Dystopien – wobei vor allem die Hoffnungen und Ängste der Menschen mit verhandelt werden, die nicht nur in dystopischen Szenarien, sondern schon heute skrupellos ausgebeutet werden. Wie der Planet und dessen Ressourcen auch. Ein tödlicher Kreislauf.
In zwei sich langsam aufeinander zu bewegenden Strängen erzählt Auf See von Yada und ihrer Mutter Helena. Yada ist 17 und wächst bei ihrem Vater auf. Der hat eine künstliche Insel gebaut und lebt mit ihr dort. Wie ein Guru residiert er auf dem Eiland, regiert praktisch allein über die sogenannte Seestatt und hält Yada dort, indem er ihr dystopische Bilder vom Festland berichtet. Vom Internet und anderen Nachrichtenquellen ist sie weitgehend isoliert.
Helena dagegen lebt in Berlin, Athen und anderen Städten. Sie versteckt sich, da sie aus einer Kunstaktion heraus mehr oder weniger unabsichtlich eine Sekte ins Leben gerufen hat, die ihr nun folgt und sie vergöttert. Während sie sie loswerden, alles beenden will, treibt ihr ehemaliger Vertrauter das Spiel immer weiter.
Ihr Zeitplan hatte vorgesehen, schon nach fünf Jahren die notwendigen technologischen Fortschritte gemacht zu haben, um autark auf hoher See leben zu können, unabhängig von der jeweiligen Festlandregierung. Je mehr ich las, desto weniger wusste ich, was ich darüber denken sollte. Es machte mich wütend. Statt diesen großen Visionen zu folgen, dümpelten wir immer noch vor der Küste herum, ernährten uns durch teure Lieferungen vom Festland und warteten auf Tag X.
Auf See bewegt sich in einem Near-Future-Setting, das ähnlich wie in Automaton von Berit Glanz sehr nah an unserer heutigen Welt ist, aber ein paar Schrauben die entscheidenden Millimeter weiterdreht. Die Seestatt ist eine Fiktion, die so oder ähnlich schon durch hunderte Köpfe ging und eigentlich nur darauf wartet, von jemandem in die Tat umgesetzt zu werden (was für Elon Musk eigentlich). Gleichzeitig ist der Klimawandel etwas weiter fortgeschritten und damit auch die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter aufgegangen. Obdachlosencamps füllen den Berliner Tiergarten, während sich das Leben in der Stadt an sich kaum geändert hat.
Erzählerisch mischt der Roman mehrere Perspektiven, die sich auch stilistisch klar voneinander abgrenzen. So wird Yada aus der ersten Perspektive geschildert, was ihre Kapitel sehr nahbar macht und gut zum Coming-of-Age ihrer Geschichte passt. Helena wird aus der dritten Perspektive gezeigt, wodurch sie distanzierter wirkt und lange Zeit unklar bleibt, welche Rolle sie eigentlich spielt – sowohl für Yada als auch in Bezug auf ihre Anhänger*innen.
Dazwischen stehen Archiveinträge, die Helena gesammelt hat. Das sind meist historische Randnotizen, die manchmal erfunden wirken, aber durchweg auf realen Quellen basieren. Die Mischung der Themen trägt dazu bei, den Roman noch tiefer zu grundieren, ihm mehr Kontext zu geben (es findet sich übrigens auch eine abgewandelte Version des WORTMELDUNGEN-Textes von Theresia Enzensberger wieder).
Das alles macht Auf See zu mehr als einer bloßen Dystopie, auch mehr als Climate-Fiction. Der Roman stellt die Frauenfiguren neben meist gierig gezeichnete Männer und baut damit den Gegensatz von menschenbezogener Empathie und profitorientiertem Neoliberalismus in seinem Ensemble nach. Gerade Helenas undurchsichtiger Charakter bewahrt den Roman davor, zu holzschnittartig zu wirken. Außerdem stehen Utopien, Hoffnungen und leere Versprechungen beständig im Fokus des Romans, der damit eher als Meta-Dystopie funktioniert, als ein bloßes dystopisch-krasses Szenario zu entwerfen. Eine runde Sache.
Theresia Enzensberger: Auf See | Hanser | 272 Seiten | 24 Euro | erschienen im August 2022