Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Es geht immer weiter: Auch in Anleitung ein anderer zu werden arbeitet sich Édouard Louis wieder schonungslos an seiner Biographie ab. Und das ist immer noch wahnsinnig gut und mitreißend. Diesmal geht es um den Klassenwechsel als junger Erwachsener.

Edouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

In den letzten Jahren ist die soziale Klasse und deren Einfluss auf das Leben der Menschen unter dem Stichwort »Klassismus« immer mehr in den Fokus gerückt. Auch bei uns auf dem Blog ist das sehr stark bemerkbar. So haben wir die Gesprächsreihe »Let’s talk about class« zwei Jahre lang begleitet, die das Thema in Deutschland auf’s Parkett bringen wollte und dies auch nachdrücklich getan hat. Zusätzlich haben wir reichlich Bücher besprochen, die Klasse und Klassismus mal mehr, mal weniger deutlich in den Fokus rücken, wie Streulicht von Deniz Ohde, Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher oder Die Jahre von Annie Ernaux.

Die Urszene für die aktuelle Diskussion um Klassismus liegt in der Veröffentlichung von Didier Eribons autobiografischem Buch Rückkehr nach Reims. In dessen Gefolge sind zahlreiche Bücher erschienen, die individuelle Lebenswege nachzeichnen und sich meist auch mit dem Klassenaufstieg auseinandersetzen. Dabei geht es in den meisten Fällen um den Aufstieg aus der Unterschicht, zum Teil ärmlichsten Verhältnissen, in den angesehenen Bereich kultureller Eliten, der Intellektuellen. Dass das oft mit kaum mehr Einkommen, aber deutlich mehr gesellschaftlichem Ansehen verbunden ist, sei mal dahingestellt.

Seit Beginn seiner schriftstellerischen Karriere arbeitet sich Édouard Louis an genau diesem Thema ab. In seinem neuen Roman Anleitung ein anderer zu werden konzentriert er sich dabei ganz dezidiert auf den Prozess des Klassenaufstiegs. Denn dieser wird für den jungen Eddy, der im Laufe des Romans seine Wiedergeburt als Édouard erleben wird, schon früh zum einzigen Lebensziel, das er Schritt für Schritt verfolgt – ohne Rücksicht auf Verluste.

Der Roman führt durch Louis’ Stationen. Er beginnt im Provinzdorf, von da geht es in die Kleinstadt, aufs Gymnasium nach Amiens, nur um von dort wieder rastlos weiterzuziehen, nach Paris, ans Ziel. Es sind immer wieder ganz enge Gefährt*innen, die es Eddy bzw. Édouard ermöglichen, Stück für Stück in den neuen Milieus Fuß zu fassen, die Codes und Selbstverständlichkeiten zu lernen, um als authentischer Klassenangehöriger wahrgenommen zu werden. Er schont sich selbst dabei kein Stück, weiß, dass er doppelt so hart arbeiten muss wie alle anderen, um auch nur seinen Status aufrechtzuerhalten, denn er kommt aus dem Nichts – was aber im rechten Licht besehen auch ein Vorteil sein kann.

Ich empfand leichtes Mitleid mit allen, die in Paris ins Theater gingen oder auf der Terrasse eines Cafés saßen, ohne sich bewusst zu sein, was für ein Glück sie hatten, die dies taten, weil sie es schon als Kinder getan hatten, weil sie in einer privilegierteren Welt aufgewachsen waren als ich. Mein Privileg bestand darin, dass ich ein Leben ohne Privilegien kennengelernt hatte.

Nun ist es besonders interessant, dass einer der Gefährt*innen Édouards gerade Didier Eribon ist, der Wegbereiter des Themas Klassismus in der aktuellen Diskussion höchstpersönlich. Dies gibt dem Roman eine zusätzliche Nuance, die er zwar nicht gebraucht hätte, um zu wirken, die ihn aber noch besonderer macht.

Anleitung ein anderer zu werden ist wieder eine knallharte Abrechnung, ein schonungsloses Abarbeiten an der eigenen Biographie. Ich fand es besonders erschreckend – aber genauso erhellend – wie viel ich selbst auch von mir in Édouard wiedererkannt habe, wie sehr seine Fixierung auf die kulturellen Statussymbole der Intellektuellen ihn von seiner Familie und auch von allen Gefährt*innen auf dem Weg entfremden. Wie er sie fallen lässt, sobald sie nicht mehr nützlich erscheinen, nicht mehr dem nächsthöheren Ziel dienlich sind.

Édouard Louis ist mit Anleitung ein anderer zu werden wieder ein sprachlich packender, ungeschminkter Roman gelungen, der sich trotz der mittlerweile zahlreichen Vorgänger mit ähnlichem Thema klar abgrenzt und positioniert. Natürlich ist vieles seiner Biographie bereits bekannt, aber der neue Fokus, der auch sehr stringent durchgezogen wird, gibt dem Roman ein ganz eigenes Standing. Ich bin jetzt schon gespannt, was als Nächstes kommt.

Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden | Aufbau | 272 Seiten | 24 Euro | erschienen im September 2022

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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